Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
der sie eben noch in seinen Armen gehalten, sie geküsst und zärtlich verspottet hatte? »Soll ich jemanden holen?«, fragte sie verzagt.
»Interessante Idee«, bemerkte er. »Ein Mädchen mit Anstand käme gewiss nicht auf den Gedanken, nachts allein in diesem Verbrechernest von Stadt herumzustreifen.«
Warum kränkte er sie? Was hatte sie ihm getan? Sie ging zwei Schritte weiter und spähte in die noch dunklere Seitenstraße. Gebannt lauschte sie auf ein Geräusch, das durch die Finsternis hallte. Schritte, die zwar leise, aber hörbar näher kamen. Aus der Schwärze schälte sich eine Gestalt. »Jaime!«, rief Josefa. Dann erkannte sie den Mann, und im selben Augenblick erkannte er sie. Es war Tomás.
»Was tust du hier?«, fuhr er sie an, packte sie schmerzhaft bei den Armen und schüttelte sie.
»Bemerkenswerte Frage«, versetzte Jaime, der hinter sie trat. »Und was, wenn ich fragen darf, tun Sie hier?«
»Ich suche die Schwester meiner Verlobten«, fauchte Tomás. »Meine gesamte Familie sucht seit Stunden nach ihr.« Von neuem schüttelte er Josefa, die vergeblich versuchte sich zu befreien, und zwang sie, ihn anzusehen. »Du treibst dich wieder mit diesem Satan herum, ja? Miguels Gnadengesuch ist abgewiesen worden. Wenn dein Vater nicht noch einmal ein Wunder wirkt, schicken sie ihn nach Yucatán und foltern ihn dort langsam zu Tode. Und gestern früh haben sie auch noch José geholt, José, der nichts anderes verbrochen hat, als bettelarm und ein begnadeter Maler zu sein. Aber was kratzt das dich? Du wirfst dich dem Teufel, der deine Freunde tot sehen will, an den Hals und verschmachtest dich nach seinen schönen Augen.«
Seine schönen Augen, war alles, was Josefa denken konnte. Die schönen Augen glühten in der Schwärze der Nacht. Jaime hatte den Mund verzogen und sprach kein Wort.
»Weißt du, was ich täte, wenn ich dein Vater wäre? Ich würde dich nach Strich und Faden versohlen, bis du wieder klar denken kannst.« Erneut packte Tomás ihre Arme und schüttelte sie, dass ihr der Kopf flog. »Aber dein Vater glaubt ja von dir, du hättest das Herz einer Josefa Ortiz – und diesen Schlag versetzt du ihm ausgerechnet jetzt, wo er seine Familie am meisten braucht.«
»Mein Vater braucht seine Familie?« Schrill und fremd höhnte Josefas Stimme durch die Nacht. »Mein Vater hat in all den Wochen einen einzigen Abend Zeit für mich gehabt. Zeigt man so vielleicht seiner Tochter, dass man sie braucht?« Sie riss sich los, floh über die Straße und warf sich Jaime an die Brust. Statt die Arme zu öffnen, trat er einen Schritt zurück. Josefa taumelte und hatte Mühe, nicht zu stürzen.
Er nahm ihre Hand, hauchte einen Kuss darüber und verbeugte sich. »Es war mir ein Vergnügen, Señorita Alvarez. Wenn Ihnen der Sinn danach steht, noch weitere Spiele der Nacht zu erproben, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung. Wo Sie mich finden, wissen Sie ja.«
Ehe sie etwas sagen konnte, hatte er sich umgedreht und ging in die Finsternis davon. Das Bild an der Hauswand schien ihn nicht länger zu kümmern. »Jaime!«, rief sie seinem schwarzen Rücken hinterher. »Jaime, ich liebe dich!«
Er wandte den Kopf. Auf die Entfernung glaubte sie in seinem Lächeln einen Anflug von Wehmut zu erkennen. Er küsste seine Fingerspitzen, blies in ihre Richtung und ging weiter. Josefa stand wie angewurzelt und hob hilflos die Hände, wie um seinen Kuss aufzufangen.
»Du bildest dir ein, du liebst ihn? Du liebst diesen Verbrecher?« Tomás ergriff ihren Arm und riss sie harsch zu sich herum. »Du kennst ihn doch überhaupt nicht – und seine Opfer kennst du noch weniger. Weißt du was? Du bist ein dummes Gör, das keine Ahnung hat, was Liebe ist.«
»Was geht es dich an?«, rief Josefa, die verzweifelt versuchte sich zu befreien.
»Mehr, als du denkst«, erwiderte Tomás. »Mir selbst wäre von Herzen gleichgültig, was du treibst und wie du dich vor dem verfluchten Lagartijo zur Närrin machst. Aber deiner Schwester ist es nicht gleichgültig. Und deinem Vater erst recht nicht. Auch wenn du für die beiden nichts als Vorwürfe hast, bewahrt sie das nicht davor, dich zu lieben. Glaub mir, täte mir um Anavera und Benito nicht das Herz weh, würde ich dich Sanchez Torrija zum Fraß vorwerfen, bis er dich satt bekommt und wieder ausspuckt.«
»Jaime bekommt mich nicht satt!«, rief Josefa tränenblind.
»So, so. Und warum nicht? Weil du die schönste Rose von Querétaro bist? Lass dir gesagt sein, da, wo dieser
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