Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
mich beeilen wie verrückt.«
Später wünschte sie sich, sie hätte dieses eine Mal den Rappen einem andern überlassen. Als sie drei Tage nach diesem an der kleinen Grube stand, die die Männer auf dem Friedhof von Santa María de Cleofás ausgehoben hatten, kam es ihr unendlich traurig vor, das verlorene Familienmitglied in seinem winzigen Leben nicht einmal gekannt zu haben.
An jenem Morgen war sie mit Jubel im Herzen ins Zimmer gestürzt, sobald Aztatl versorgt war. Im selben Augenblick hatten die Frauen zu schreien begonnen. Die tapfere Carmen, die Anavera im Leben noch nie hatte schreien hören, war die lauteste. Sie warf sich über das Kindchen auf dem Bett und heulte wie eine Kojotin. Xochitl, die an der Seite kniete, brach in haltloses Weinen aus, und die Mutter umklammerte Carmens Schultern, versuchte sie an sich zu ziehen und rief: »Komm doch zu dir, Carmencita, mi querida, dem armen kleinen Jungen hilfst du ja nicht mehr.«
Abelindas leises Weinen war unter alledem kaum zu hören. Ernesto bemühte sich um sie, beugte sich weit über das Bett und versuchte ihr einen Löffel voll dunkler Arznei einzuflößen. Abelinda aber drehte das Gesicht zur Seite und presste die Lippen aufeinander. Das Bild erstarrte Anavera vor den Augen wie die aztekischen Reliefs in Stein, die Tomás so bewunderte. Als wären die schlafenden Götter in den Felsen erwacht und hätten einen Schlag verübt, um die Menschen im Tal zu warnen. Mit dem Leben des Kindes verlosch die Illusion der Sicherheit, die der Ritt durch den Sonnenaufgang ihr vorgegaukelt hatte. Anavera hatte Mühe, gegen den jähen Ansturm von Furcht anzukämpfen.
Irgendwann gelang es dem Arzt, sowohl Abelinda als auch Carmen sein Mittel zur Beruhigung aufzudrängen. Abelinda kam gnädig die Erschöpfung zu Hilfe. Ehe ihr die Augen zufielen, nahm sie ihren letzten Rest Kraft zusammen, um eine Handvoll Worte herauszustoßen: »Sagt Miguel nichts davon. Um alles in der Welt, sagt Miguel davon kein Wort.« Dann durfte sie endlich schlafen und für ein paar Stunden vergessen, was aus ihrem Leben geworden war.
Xochitl führte Carmen, die gebeugt und willenlos an ihrem Arm ging, aus dem Zimmer.
»Da ist noch etwas«, sagte Ernesto zur Mutter und zu Anavera. »Ich wollte es nicht erwähnen, solange dieses arme Mädchen uns hörte, denn für den Moment wäre es mehr, als es ertragen könnte. Euch aber muss ich es sagen: Sie darf nie wieder ein Kind bekommen. Mir ist klar, wie hart das den jungen Miguel treffen muss. Ich bin selbst gerade Vater geworden und weiß, dass die Erfüllung eines Mannes in seinen Kindern liegt. Doch nicht allen Frauen ist es gegeben, ihren Männern diese Erfüllung zu schenken. Abelinda kann ihrem Schöpfer danken, wenn sie es diesmal überlebt. Ein zweites Mal wäre ihr sicherer Tod.«
Er bot an, sich um das tote Kind zu kümmern, doch die Mutter lehnte ab. Sie wusch den kalten kleinen Körper selbst und zog ihm die weißen Kleider an, die Abelinda für ihn vorbereitet hatte. Anavera half ihr. Es war Balsam, dieses Letzte für das Kindchen tun zu können und dabei zu weinen. Als sie Fortunato in sein Körbchen gebettet hatten, sah er aus, wie Donatas Tochter nach ihrer Geburt ausgesehen hatte, selig und geborgen im Schlaf. Anavera fiel etwas ein. »Wo ist das Erstgeborene? Sollten wir es nicht zu seinem Geschwisterchen legen?«
Hastig schüttelte die Mutter den Kopf. »Xochitl hat es gleich zugedeckt und aus dem Zimmer gebracht, damit Carmen und Abelinda es nicht sehen. Was die beiden auszuhalten haben, ist auch so schon viel zu hart. In all den Jahren habe ich Carmen nie weinen sehen, weißt du das? Carmen, die Überstarke, unser Kapokbaum, an dem sich jeder festgehalten hat. Ist es nicht merkwürdig, dass ein Mensch erst in Not geraten muss, damit wir merken, wie sehr wir ihn brauchen? Ich will nicht, dass Carmen uns an der Trauer um ihre Enkel und an der Angst um ihren Sohn zerbricht.«
»Was ist mit dem erstgeborenen Kind?«, beharrte Anavera. »Warum hatte Xochitl solche Eile, es wegzubringen?«
»Es war missgestaltet.« Beinahe flüsterte die Mutter. »Vermutlich ist es schon vor vier Wochen in Abelindas Leib gestorben.«
Anavera musste an den Tag denken, an dem Felipe Sanchez Torrija Coatls Familie von ihrem Land vertrieben und Abelinda sich im Hof vor Schmerz gekrümmt hatte. »War es ein Sohn?«, fragte sie. »Oder eine Tochter?«
Ein wenig hilflos zuckte die Mutter mit den Schultern. »Keine von uns hat nachgeschaut. Das
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