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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
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Kleine sah furchtbar aus, Liebes. Wir bekämen das Bild nicht mehr aus dem Kopf.«
    »Aber wir sollen es doch auch gar nicht aus dem Kopf bekommen!«, rief Anavera empört. »Es ist ein Mitglied unserer Familie, auch wenn es nicht mehr lebt – die zwei sind die einzigen Kinder, die Miguel und Abelinda je haben werden! Wo hat Xochitl es hingebracht? Wenn ihr es alle nicht ansehen mögt, dann richte ich es allein her. Ich will nicht, dass in diesem Haus ein Kind geboren wurde und kein Mensch hat es je in seinen Armen gewiegt.«
    Sie war aufgesprungen. Als sie verstummte, stand ihre Mutter ebenfalls auf und berührte ihre Hand. »Du bist durch und durch das Kind deines Vaters«, sagte sie. »Wie soll ich es eigentlich meinem Schöpfer je danken, dass er mir einen so geraden, zu so viel Liebe fähigen Menschen noch ein zweites Mal geschenkt hat? Komm, holen wir Abelindas Erstgeborenes zu seinem Bruder. Ich werde dir helfen, es anzukleiden.«
    Das tote Kindchen war viel weniger erschreckend, als Anavera befürchtet hatte. Das Körperchen sah aus, als hätte sein Bildhauer noch keine Zeit gehabt, es zu vollenden, nur eine Idee in rohem Ton, ein Traum, der nicht zu Ende geträumt werden würde. Das Gesicht glich einer dunklen, verrunzelten Frucht. Es war ein Mädchen, ein uraltes verrunzeltes Frauchen, das in eine Handfläche passte. Anavera und ihre Mutter knoteten ihm eine Windel wie einen Huipil um die Schultern und betteten es an die Seite seines Bruders, so dass das Gesicht halb im Kissen und halb unter dichtem Haar verborgen war. Sie würden darauf bestehen, dass die Geschwister in einem einzigen Sarg bei den Gräbern der Familie bestattet wurden.
    »Was ist mit Abelindas Wunsch?«, fragte Anavera, nachdem sie das Körbchen auf das Bett in der Kinderstube gestellt und zu beiden Seiten Kerzen angezündet hatten. »Werden wir es Miguel verschweigen?«
    Die Mutter nickte. »Es ist schlimm genug, dass er es erfahren muss, wenn er wieder hier ist. Aber dann ist er wenigstens bei seiner Frau, und die beiden können einander ein Trost sein. Bitte schreib auch Tomás nichts – Tomás und Martina sind zwei der wundervollsten Menschen, die ich kenne, aber ein Geheimnis zu bewahren gehört nicht zu ihren Stärken.«
    »Ja, du hast recht«, stimmte Anavera zu. »Tomás versucht gerade eine Besuchserlaubnis für Miguel zu erhalten, und vor seinem Freund Stillschweigen zu bewahren würde ihm schwerfallen.«
    Die Mutter zog sie aus dem Zimmer und schloss sachte hinter ihnen die Tür. Still und traurig gingen sie hinüber ins Büro, wo die Mutter die Geldschatulle öffnete und zerstreut Münzen in die Lederbeutel der Kaffeepflücker zu zählen begann. Nach einer Weile konnte Anavera es nicht länger mit ansehen und nahm ihr Schatulle und Beutel weg. »Lass mich das machen, Mutter. Du geh und ruh dich aus.« Ehe die Mutter etwas erklären konnte, winkte sie ab. »Ich sage den Leuten, dass das Fest nicht stattfinden kann, und zahle ihnen zum Ersatz den doppelten Lohn aus.«
    »Den dreifachen«, sagte die Mutter. »Es wird noch immer wirken wie ein Almosen, aber es soll wenigstens nicht kläglich sein.«
    »Es ist nicht kläglich. Mach dir keine Sorgen, jeder wird es verstehen.«
    »Danke.« Flüchtig zog die Mutter sie an sich. »Dann gehe ich in mein Zimmer und schreibe an Benito.«
    »Wirst du ihm von Abelinda erzählen?«
    »Ja«, antwortete die Mutter. »Er vertritt an Miguel die Vaterstelle, er muss davon wissen. Und außerdem fühle ich mich so verdammt gottverlassen, wenn ich nicht meine Sorgen mit ihm teilen kann, wie wir es unser Leben lang getan haben.«

15
    W enn Benito nach seinem Glas griff, musste er sich anstrengen, damit ihm die Hand nicht vor Erschöpfung zitterte. Die Nächte, in denen er kaum geschlafen hatte, konnte er nicht mehr zählen, und in der letzten hatte er kein Auge zugetan. Es war ein Uhr gewesen, als seine Wirtin an seine Tür gehämmert hatte. Eine Dame wolle ihn sprechen, sie sei völlig aufgelöst. »Du könntest dich im Schrank verstecken«, versuchte er einen hilflosen Witz, über den Dolores aber nicht lachen konnte, sondern in Tränen ausbrach. Schnell schloss er die Arme um sie und strich ihr beruhigend über das Haar. »Setz dich einfach in mein Arbeitszimmer und warte«, sagte er. »Ich sehe zu, dass ich das so schnell wie möglich regle, und dann bringe ich dich nach Hause.«
    »Nein«, sagte sie und wischte sich resolut die Tränen von den Wangen. »Verzeih, dass ich mich wie eine

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