Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
hysterische Truthenne betrage. Ich nehme den Hinterausgang und gehe allein.«
»Das kommt nicht in Frage.«
»Warum nicht? Mit meinem Ruf ist ohnehin kein Staat mehr zu machen – wem ist geholfen, wenn wir deinen auch noch ruinieren?«
»Es geht nicht um deinen Ruf, sondern um deine Sicherheit«, beschied er sie. »Ich lasse kein Mädchen mitten in der Nacht durch eine Stadt voller hungriger Wölfe spazieren. Setz dich ans Fenster und warte. Bestimmt ist es nichts von Bedeutung.«
Dass es nichts von Bedeutung war, wenn ihn um ein Uhr in der Nacht eine Dame besuchte, glaubte er in seinen kühnsten Träumen nicht. Die Dame war Felice. Sie war außer sich. »Es tut mir so leid, Benito, es tut mir so entsetzlich leid! Aber ich kann doch das Mädchen nicht im Haus einsperren, wenn sie mir sagt, sie geht mit diesen Leuten von der Bank zum Essen.«
»Mit welchen Leuten von der Bank?«, schrie Benito. Er hätte sie packen und aus ihr herausschütteln wollen, wo sein kleines Mädchen war, auf das sie hätte aufpassen sollen. Zähneknirschend beherrschte er sich.
»Sie hat gesagt, spätestens um elf bringen ihre Freunde sie nach Hause. Aber es war halb eins, als ich aus dem Schlaf geschreckt bin – und Josefa war nicht in ihrem Bett!«
Benito wollte nur eines, hinaus auf die Straße und Josefa suchen, bis er sie wiederhatte, heil und sicher in seinen Armen.
Felice fing an zu weinen. »Ich weiß, ich bin schuld«, presste sie heraus.
»Unsinn«, rang er sich ab, obwohl er sich dessen alles andere als sicher war. Kurzerhand nahm er sie beim Arm und führte sie hinunter in die Loggia, wo seine Wirtin, eine alte Jungfer, die ihr graues Haar tintenschwarz färbte, im Morgenrock seiner harrte. »Ich bitte um Verzeihung, Doña Consuelo«, sagte er. »Und ich verspreche, ich mache es wieder gut. Dürfte meine Verwandte wohl kurz hier bei Ihnen warten, bis ich etwas erledigt habe?«
»Erledigt!« Sie schnaufte. »Entledigt meinen Sie wohl! Die eine soll hier warten, bis Sie sich der anderen entledigt haben. Und wenn eine von denen Ihre Verwandte ist, fresse ich meinen Besen. Was ist in Sie gefahren, Don Benito? Zwanzig Jahre lang habe ich Sie für einen Mann von Ehre gehalten, und wenn Sie hundertmal braun wie ein Brüllaffe sind. Weshalb fangen Sie in Ihrem Alter an und machen aus meiner Villa ein Hurenhaus?«
»Meine Tochter ist verschwunden«, rief Benito, weil er weder Zeit noch Kraft für Erklärungen hatte. »Felice, warte auf mich.« Ihren Blick von der Seite konnte er förmlich spüren. Dessen ungeachtet rannte er die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer. Dolores wartete fertig angekleidet in der Tür. Ihre Wimpern waren noch nass, aber wie sie dort stand und ihren schönen Kopf aufrecht hielt, kündete alles an ihr von ihrem bemerkenswerten Mut. »Ich habe zugehört«, sagte sie. »Ich gehe allein, und du suchst dein Mädchen. Du hast um meinetwillen schon genug Scherereien.«
»Ich muss dich wenigstens in einen Wagen setzen.«
»Nein, musst du nicht. Aber wenn dein Gewissen dann ein wenig milder mit dir umgeht, tu’s. Es ist ganz schön zermürbend, ein Ehrenmann zu sein, nicht wahr? Kein Wunder, dass die Gattung im Begriff steht auszusterben.«
Sie mussten beinahe bis zum Zócalo laufen, um einen Wagen aufzutreiben. Als er Dolores hineinhalf, fragte sich Benito: Steht ihr Vater auch mitten in der Nacht auf der Straße und hört sein Blut rauschen, weil er nicht weiß, wo sie ist? Ihr Vater, Teofilo de Vivero, Conde del Valle de Orizaba, war ein feiner Mann, der darauf bedacht war, keinem Menschen etwas zuleide zu tun. Er war womöglich der Einzige aus dem Umkreis der Regierung, für den eine Welt zerbrochen war, als er von Porfirios Wahlbetrug erfahren hatte. Dolores war sein einziges Kind, nach dem frühen Tod seiner Frau seine ganze Familie.
Ist das die Strafe?, durchfuhr es Benito, während er durch die Nacht zurück zu seinem Haus jagte. Seine Faust ballte sich, wie um sich drohend gegen eine Gottheit zu erheben. Nicht meine Josefa, wollte er brüllen. Nicht mein Kind, das für nichts etwas kann.
Aus Felice bekam er immerhin noch heraus, dass Josefa am frühen Abend zu Martina gegangen war, und im Portal zu deren Palais trafen sie auf Tomás. »Was machst du denn hier?«, platzte er heraus, ehe Benito ihm dieselbe Frage stellen konnte. Mit ein paar Worten war die Lage erklärt, Tomás riss seine Eltern aus dem Schlaf, und dann teilten sie sich auf, um die Stadt abzusuchen. An die Stunden, bis Tomás
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