Im Tal des Schneeleoparden
sog er gierig den Atem ein, als hätte er bisher keine Zeit zum Luftholen gefunden. Anna spürte das Zittern seiner Hand und drückte sie beruhigend. Langsam ließ das Zittern nach.
»Du lebst«, flüsterte Kim.
»Ja, ich lebe, dank dir. Mein Vater hat mir erzählt, dass du mich den Berg hinuntergeschleppt hast, als sie uns vom Hubschrauber aus erspähten. Was ist seitdem passiert? Wie bist du so schnell hergekommen?«
»Schnell? Es hat mich drei Tage gekostet. Drei Tage, in denen ich vor Sorge um dich nicht mehr bei Sinnen war. Ich habe mir so gewünscht, dass du es schaffst, aber ich wusste doch, wie krank du bist. Du hast blutigen Schaum gehustet. Ich hatte Angst wie nie zuvor in meinem Leben.« Er schluckte. »Wie fühlst du dich jetzt? Hast du –« Er stockte.
»Ob ich bleibende Schäden davongetragen habe?«, beendete Anna seinen Satz. Sie schüttelte den Kopf, wenn auch vorsichtig. Noch plagten sie Kopfschmerzen, aber der Arzt hatte ihr versichert, sie würden vergehen. »Nein, ihr habt mich gerade noch rechtzeitig aus den Bergen geholt. Ich fühle mich erbärmlich schwach, und auch das Atmen fällt mir noch schwer, aber mein Gehirn hat von der Schwellung keinen Schaden genommen. Und das ist das Wichtigste. In ein paar Tagen bin ich wie neu. Doch nun erzähl endlich, wie es dir ergangen ist.«
»Gleich«, murmelte Kim. »Im Moment möchte ich dich einfach nur ansehen.« Die Erleichterung stand ihm ebenso deutlich ins Gesicht geschrieben wie seine Müdigkeit.
Ein Räuspern ertönte. »Ich störe euch nur ungern«, sagte der Pangje, »aber ich muss wissen, was seit meinem Abflug in den Bergen geschehen ist.«
Kim fuhr herum. Er hatte den Pangje völlig übersehen. Verwirrt begrüßte er ihn. Dann begann er zu erzählen, von seiner Suche, von dem gelben Schlafsack und Annas leblosem Körper. Und von dem Mann, der mit einer grässlichen Fleischwunde am Bein nur ein paar Meter neben ihrem Versteck gelegen hatte.
»Um Gottes willen«, keuchte Anna. »Ich dachte, ich hätte es mir nur eingebildet.«
»Was solltest du dir eingebildet haben?«
»Den Mann. Kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, hörte ich jemanden auf dem Geröllfeld herumschleichen.« Sie verstummte. Kim und ihr Vater sahen sie fragend an. »Da war noch etwas«, fuhr sie zögernd fort. »Ein Tier. Ein Wesen. Etwas sehr Großes, schnell und lautlos.« Hilflos zuckte sie die Schultern. »Ich hatte schon in den Tagen zuvor mehrmals geglaubt, einen großen Schatten zu sehen. Einen – Berggeist.« Sie lächelte unsicher. »Ihr haltet mich für verrückt, oder?«
Ihr Vater wollte gerade zum Sprechen ansetzen, als Kim ihm zuvorkam: »Keinen Berggeist, Anna. Einen Schneeleopard.«
»Woher weißt du, dass es ein Schneeleopard war?«, fragte der Pangje erstaunt.
»Ich habe ihn gesehen.« Kims Stimme hatte einen ehrfürchtigen Klang angenommen. »Kurz nachdem ich mir Anna auf den Rücken gebunden und losgelaufen war. Er saß keine zwanzig Meter entfernt auf einem Felsblock und sah mich an, endlose Sekunden lang. Dann erhob er sich und schritt davon. Ganz langsam, so dass ich ihn in voller Größe betrachten konnte. Er war so schön! Ich werde diesen magischen Moment nie vergessen.«
»Du hast ihn nur gesehen, weil er es so wollte«, sagte der Pangje leise. »Es war ein Geschenk.«
»Ich weiß. Du hast ihn ebenfalls schon gesehen, nicht wahr?«
Der Pangje antwortete nicht. Es war unnötig.
»Meint ihr, der Schneeleopard hat den Mann angegriffen?«, fragte Anna.
Kim nickte.
»Dann hat er mir das Leben gerettet.« Anna bohrte ihre Augen in die ihres Vaters, doch er verzog keine Miene. Der Schneeleopard, dachte sie. Das Phantom der Berge. Du willst nichts dazu sagen, und ich werde dich nicht fragen.
»Er war einer von Achims Leuten, ein ziemlich kräftiger Typ«, fuhr Kim fort, ohne die stumme Zwiesprache zwischen Vater und Tochter zu bemerken. »Er stand noch unter Schock, aber er lebte. Nachdem die Freunde deines Vaters mich gefunden hatten, holten wir auch den Mann und brachten ihn in das verborgene Dorf.«
»Sind alle wohlauf?«, fragte der Pangje.
»Ja. Einige haben Schürfungen und blaue Augen davongetragen, aber niemand ist ernsthaft verletzt worden. Bis zum Abend hatten sie schon drei von Achims Männern aufgespürt. Sie sitzen jetzt in einem Stall und schlottern vor Angst und Kälte. Khagendra ist noch im Dorf und erholt sich von den Strapazen. Er wird dort auf dich warten. Ich bin gleich am nächsten Morgen aufgebrochen und in
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