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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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notdürftig mit einem Papiertaschentuch sauber und blickte sich um. Überall waren Menschen damit beschäftigt, die Gräber ihrer Lieben zu pflegen. Gerade ging eine alte Dame an ihr vorbei und redete mit sich selbst. Anna schnappte ein paar Wortfetzen auf und korrigierte sich. Die Frau sprach nicht mit sich selbst, sondern mit ihrem verstorbenen Mann. Sie nannte ihn Vati, wie die ältere Generation es gern tat. Sie waren Eltern und Großeltern und in ihrer Rolle offensichtlich aufgegangen. Anna sah der Frau lange nach – eine etwas mollige und doch elegante Erscheinung in Kostüm und Pumps mit moderaten Absätzen.
    Der sonnensatte Friedhof erschien Anna heute als ein Ort, an dem alles möglich war. Auch das Zwiegespräch mit den Toten, die mit Sicherheit gerade zu Dutzenden unterwegs waren, um sich an den nur für sie angelegten Gärten zu erfreuen. Anna seufzte. Die Atmosphäre hatte etwas Tröstliches, und sie wünschte, ihr Vater würde ab und zu hierherkommen. In den letzten Monaten hatte er sich glücklicherweise wieder etwas gefangen, aber er weigerte sich noch immer, den Friedhof zu besuchen. Es hätte für ihn bedeutet, den Tod seiner Frau zu akzeptieren, und davon war er meilenweit entfernt.
    Immerhin hatte er schließlich in eine Therapie eingewilligt und vor ein paar Wochen seine Arbeit wieder aufgenommen. Jetzt kämpfte er darum, in den Vorruhestand gehen zu dürfen. Anna hielt es für keine gute Idee. Die Arbeit gab Eddo einen Rahmen, innerhalb dessen er sich einigermaßen sicher bewegen konnte. Die untätigen Monate waren ihm überhaupt nicht bekommen, und Anna gruselte sich bei der Vorstellung, dass ihr Vater den Rest seines Lebens damit verbrachte, sinnentleerte Seifenopern zu konsumieren. Du hättest ihn nicht alleinlassen dürfen, Mami, dachte sie plötzlich wütend. Und mich und Timo auch nicht. Hast du es vorsätzlich getan? Hast du es gewusst? Hast du gewusst, dass die Ebbe bald einsetzen würde? Was hast du dir dabei gedacht?
Wer warst du eigentlich?
    Erschrocken starrte Anna auf ihre Hände. Ohne es zu bemerken, hatte sie das Taschentuch in winzige Fetzen zerrissen. Weiße Papierstückchen flogen überall herum und legten sich auf die Blumen wie aufmüpfige Schneeflocken, die nicht einsehen wollten, dass der Sommer gewonnen hatte.
Wer warst du eigentlich?
Dieser Satz quälte sie, hatte sich in ihre Gedanken gefressen, seit sie vor vier Monaten diese verdammten Briefe gefunden hatte.
Wer warst du eigentlich?
    Ihre wunderbare, liebende Mutter, das stand außer Frage. Aber kannte sie ihre Mutter wirklich? War da noch mehr gewesen? Hatte es tatsächlich noch etwas anderes in Bärbels Leben gegeben als ein blitzblankes Reihenendhaus, einen Ehemann, zwei Kinder und die Nordic-Walking-Gruppe?
    »Ich werde es herausfinden«, sagte Anna laut in Richtung des großen Granitfindlings, den sie statt eines rechtwinkligen Grabsteins ausgesucht hatte. Timo war erstaunt gewesen, als sie ihm den Findling beim Steinmetz gezeigt hatte, aber auch erfreut: Endlich gäbe es mal etwas Unregelmäßiges im Leben seiner Schwester. Seine Bemerkung hatte Anna verletzt, aber sie war stumm geblieben. Was hätte sie auch sagen sollen? Ihr Leben war so geradlinig wie ein abgeschossener Pfeil, Ziel: Rente. Oder: Tod. Sie war wie ihre Mutter.
    Wer warst du eigentlich?
Anna rieb sich die Stirn. Oh, sie würde es herausfinden, vielleicht schon am kommenden Wochenende. Sie musste Klarheit haben, sonst würde sie nie wieder ruhig schlafen.

[home]
6
    E twa zur selben Zeit, als Anna den Friedhof verließ, um den Vormittag für weitere Erledigungen zu nutzen, stand in Nepal die Sonne schon hoch am Himmel und buk dem mittagsheißen Land eine harte Kruste. Tara schleppte einen gefüllten Wassereimer zum Unterstand der Wasserbüffelkuh und war dankbar für den Schatten, den er bot. Sanft strich sie über den mächtigen Bauch des Tieres. Bald würde die Kuh kalben, es konnte sich nur noch um Tage, vielleicht Stunden handeln. Tara lehnte müde die Stirn gegen die Flanke des Tieres – seit fünf Uhr morgens war sie auf den Beinen und hatte ihr Tagwerk erst zur Hälfte erledigt. Ein heftiger Stoß im Inneren des Büffelbauches ließ ein Lächeln auf ihrem Gesicht erscheinen. Das Kleine wollte hinaus.
    Wieder spürte sie einen Tritt, und auch die Büffelkuh wurde unruhig. Tara strich ihr mit festem Druck beruhigend über den Hals, erfühlte die wenigen drahtigen Haare auf der dunkelgrauen, von der Mittagssonne mit Lichtsprenkeln

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