Im Tal des Schneeleoparden
zurück. Die Arbeit wuchs ihr und dem Vater über den Kopf, und es war undenkbar, dass sie ihn im Stich ließ. Erst die Rückkehr Bahadurs oder Birajs würde ihr die Freiheit geben, ihre eigene Mission in Angriff zu nehmen. Eine Mission, von der niemand etwas wissen durfte.
»Tara!«
Tara schrak aus ihren Gedanken und blickte auf. Ihr Vater stand etwa fünfzehn Meter über ihr auf dem Lehmdamm des Terrassenfeldes. Sein zerrissenes, schweißnasses Unterhemd starrte vor Dreck. Er hatte die Beine seiner unförmigen Arbeitshosen bis zu den Oberschenkeln aufgerollt, und Tara konnte seine dünnen harten Waden sehen, die sich verästelnden blauen Adern und die knotigen Knie. Sie senkte den Kopf. Obwohl ihr Vater genauso aussah wie Tausende andere Bergbauern auch, vermochte sie seine abgearbeitete Erscheinung heute nicht zu ertragen. Er erschien ihr wie das Sinnbild der Niederlage.
»Alles in Ordnung?«
Tara hob erneut die Augen. Es war selten, dass sich Buba nach ihrem Befinden erkundigte, und nun schämte sie sich umso mehr. Er war ein guter Vater, trotz allem. Wie zur Bestätigung schenkte er ihr ein Lächeln, selten und kostbar zugleich. Tara erwiderte es.
»Es ist heiß«, sagte sie. »Ich habe Wasser mitgebracht.«
»Das wäre nicht nötig gewesen. Der Dung ist schwer genug.«
»Ich bin stark.«
»Ja«, murmelte er, so leise, dass Tara ihn kaum verstehen konnte, »ich habe eine starke Tochter.« Dann sprang er von dem Lehmdamm auf das darunterliegende, kaum einen Meter breite Feld, von dort auf das nächste und auf das nächste, bis er bei Tara angelangt war. Sie reichte ihm eine Blechkanne. Wortlos nahm er sie ihr ab und trank in tiefen, durstigen Zügen.
»Danke.«
Nachdem auch Tara getrunken hatte, standen Vater und Tochter schweigend nebeneinander und blickten in das tief unter ihnen liegende Tal des Daraundi Khola. Das helle Band des Flusses war gut zu erkennen, während die an den Flanken der Berge gelegenen Dörfer vom Hitzedunst verschluckt wurden. Flach wie Scherenschnitte staffelten sich die Bergrücken in immer heller werdenden Grau- und Brauntönen hintereinander, bis sie mit dem ebenfalls grauen Himmel verschwammen. Tara schluckte trocken. Wie jedes Mal, wenn sie hier stand, dröhnte ihr wieder das Motorengeräusch des entschwindenden Hubschraubers in den Ohren. Doch bevor die Erinnerung Gewalt über sie gewann, wurde Taras Aufmerksamkeit von etwas anderem abgelenkt. Sie wies flussabwärts, nach Süden, wo fern über Indien eine dunkelgraue Verfärbung am Himmel erkennbar war.
»Buba, sieh doch nur! Der Monsun!« Tara lachte erleichtert auf. Endlich, endlich kam der Monsun! Die sich immer stärker aufbauende schwüle Hitze der letzten Wochen hatte auf die Gemüter gedrückt, selbst die Tiere waren reizbarer als sonst. Es hatte monatelang nicht geregnet, und das Land war ausgedörrt. Staub hing in der Luft und verbarg die weißen Himalaya-Riesen, setzte sich in jede Ritze, überzog die Blätter der Pflanzen und knirschte beim Essen im Reis. Die ganze Welt lechzte nach Regen und Kühle, und niemand verschwendete einen Gedanken daran, dass mit dem Regen auch Erdrutsche kamen, reißende Flüsse, unpassierbare Wege, abgestürzte Menschen und Tiere, Moder und verschimmelte Vorräte. Mit diesen Problemen würde man sich befassen, wenn sie auftraten.
Tara erschrak, als ihr Vater unvermittelt seinen Arm um ihre Schultern legte.
»Ja, der Monsun, Kanchhi. Er bringt neues Leben und reinigt das alte.«
Kanchhi, dachte Tara verwundert, aber auch erfreut. Wann hat er mich das letzte Mal ›seine Kleine‹ genannt? Und was hatte er gesagt? Der Regen würde das alte Leben reinigen? Er mochte recht haben, aber wovon würde das Leben gereinigt werden? Seit sie denken konnte, hatte sie sich gefragt, woraus der Dreck gemacht war, der ihre Familie beschmutzte, und sie spürte, dass sie der Antwort nie näher gewesen war als in diesem Moment. Ob sich Buba ihr endlich anvertraute? Würde sie erfahren, welcherart die Macht war, die der Bhoot über ihren Vater ausübte? Vor gespannter Erwartung traute sie sich kaum zu atmen, während in ihrem Inneren ein Aufruhr tobte. Sprich!, schrie es in ihr. Teile dein Geheimnis mit mir, damit wir dem Bösen Einhalt gebieten können!
Doch ihr Vater verstummte erneut.
Ermutigt von dem noch immer zärtlich und beschützend auf ihren Schultern ruhenden Arm, nahm Tara all ihren Mut zusammen. »Wird der Regen auch uns säubern?«, fragte sie leise.
Er zog seinen Arm
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