Im Tal des Vajont
überhaupt keine Kälte, vielleicht gerade deshalb, weil sie von jenem eiskalten Ort herkommt, den Piare Stort de Narmo meinte, als er mit leiser Stimme sagte, dass die Schlampe es nun kühl habe.
Tausend Mal Verfluchte, es reichte ihr nicht, uns unserer Leben zu berauben und denen den Tod zu bringen, die sie umgebracht hatten, sie musste noch als Geist in dem Mädchen Neve wiederkehren. Zum Glück tut sie diesmal nichts Böses, sondern Gutes, denn Neve heilt die Menschen, aber nur die wirklich Gottgläubigen, wie sie auch den elfjährigen kleinen Matteo heilte. Vielleicht bereute sie in der anderen Welt ja schon alle ihre Rachezüge, und so schickte Gott sie von Neuem auf die Erde, um etwas Gutes zu tun. Aber vor mir hatte sie Angst, weil schließlich der Plan, sie zu töten, von mir und Raggio stammte. Deshalb weinte sie jedes Mal so verzweifelt, wenn ich in ihre Nähe kam. Aber ich glaube nicht, dass die Kleine böse ist. Ihre einzigartige Kraft rührt ja vom Geist der alten Melissa, die jetzt in Neve gut und gerecht geworden ist. Zu Lebzeiten ließ sich die Alte das Übernachten in ihrer Höhle teuer bezahlen, als Tote hatte sie uns nun für unsere Sünden teuer zahlen lassen. Dann versteckte sie sich für immer in ihrem unbekannten Grab. Aber etwas von ihr ist in der Seele der Kleinen auf die Welt zurückgekehrt, wie um den Leuten nach all dem Bösen am Ende auch etwas Gutes zukommen zu lassen. Manchmal erlaubt Gott es den Toten, zurückzukehren und den Lebenden zu helfen. Und vor mir hat Neve Angst, weil sie weiß, dass ich der Erfinder ihres Todes gewesen bin. So wenigstens sehe ich es. Heiliger Gott, hilf mir, dass ich bald Schluss machen kann.
Heute werde ich noch ein paar Seiten schreiben, aber morgen breche ich wieder auf, hinunter nach San Michele al Tagliamento, um den Padrone und alle meine anderen Wohltäter zu grüßen. Vor allem aber sie, die mein Kind im Bauch trägt, geschützt vor Unwettern und Schmerzen, bis es selbst das Tageslicht dieser missratenen, schlechten und verfluchten Welt erblickt.
Heute habe ich auch einen Rundgang durch mein Dorf gemacht. Noch einmal bin ich die Wege meiner Kindheit gegangen, sah vor meinem inneren Auge noch einmal mein Leben vorüberziehen, sah meine Eltern, die tägliche Arbeit, die Schinderei, die Alten und dann die Jungen in meinem Alter; alle sind wir aufgewachsen hier an diesem Ort, der für mich heute so ohne Leben ist. Aber er ist so ohne Leben, weil wir selbst inzwischen abgestorben sind, ohne Leben und ohne Herz, ich als Erster.
Das Dorf trägt daran keine Schuld, ist immer noch wie damals, schön, grün und voller Bäume, es sind die Leute, die sich mit der Zeit ändern, und fast immer zum Schlechten.
Ein letztes Mal bin ich auch zu Gioanin de Scàndol in seine Sägerei unten am Vajont gegangen, um mich von ihm zu verabschieden. Wie immer saß er da und schaute auf das rauschende Wasser, während die Säge, von den Mühlschaufeln angetrieben, ganz langsam einen Stamm durchschnitt, gerade genug, damit es für eine Mahlzeit und den Liter Wein am Tag reichte.
Als Scàndol mich sah, fragte er mich ruhig, wie es der Welt da draußen ergehe. Ich antwortete, draußen sei es mal schön und mal hässlich, mancherorts gebe es Reichtum und mancherorts Armut, aber der schönste und reichste Ort sei dort, wo man geboren und aufgewachsen ist, auch wenn da nur Elend herrscht. Warum ich dann fortgegangen sei, wenn mein Geburtsort mir so gefiele, fragte er, ohne die Augen vom Wasser abzuwenden. Um ein wenig Geld zu verdienen, erwiderte ich, aber bald würde ich für immer heimkehren. Man brauche nicht viel Geld zum Leben, sagte er, wenn ich es vierzig Jahre lang ausgehalten habe, ohne wegzugehen, dann könnte ich auch für weitere vierzig zu Hause bleiben, ohne in die Fremde zu gehen. Außerdem würden die Leute aus anderen Gründen ihre Heimat verlassen, nicht aus Geldnot, doch eigentlich interessiere es ihn gar nicht, warum ich wegging, aber schade sei es schon.
Beim Wasser sei das ähnlich, sprach er weiter mit unverändertem Blick auf den Vajont, wenn du ihm mit den Augen nach Westen hin folgst, fließt es fort, schaust du aber nach Osten, dann kommt es zurück. »Schlimm ist es, wenn du es direkt vor dir siehst und es im Nu schon blitzschnell weitergeflossen ist, ohne dass du es anhalten kannst. Genau so ist es mit uns«, sagte Gioanin de Scàndol, »da kommen wir an, gehen an jemandem vorbei, und schon sind wir schnell wieder fort, wie dieses Wasser, und wer
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