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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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gewesen war, oder besser, was alles geschehen war in meinem Leben, in dem von Raggio, von seiner Frau und all denen, die um mich herum gewesen waren.
    Dann beschloss ich, eine Zeit lang in mein Dorf zurückzukehren, um es noch ein letztes Mal zu sehen, denn danach wollte ich nicht mehr dahin zurück, wo die Erinnerungen nur zu sehr schmerzten.
    Nirgendwo würde ich mehr hingehen, nur noch in die Hölle.
    Ganz langsam bin ich dann zurück hochgewandert, und in den Pausen schrieb ich weiter ins Heft.
    Jetzt sitze ich hier in meinem Haus in Erto vor meinem Heft und schreibe die wahre Geschichte über den Tod von Raggio zu Ende, und auch über meinen eigenen Tod, wie ich ihn ja jetzt in Form des Stocks, befestigt mit zwei Nägeln an der Wand in der Osteria von Camino al Tagliamento, gesehen hatte. Dieser Stock war gekommen, um mir den Tod zu bringen. Raggio hatte recht gehabt, als er mir sagte, dass er mich mit dem Stock noch töten würde.
    Heute ist der 25. Juli, ich habe drei Tage gebraucht, um von San Michele hier herauf zu meinem Haus in Erto zu kommen, aber Zeit hat nunmehr keine Bedeutung für mich. Ob ich drei oder zehn Tage brauche, ist unwichtig, wichtiger ist, so schnell wie möglich die Wahrheit zu Ende aufzuschreiben, weil ich schon spüre, dass sich unter meinen Füßen die Erde auftut und mein Leben hinunterzieht, wie die Lawine den Baum mit sich reißt.
    Auch wenn es Juli ist und heiß, mein Haus habe ich kalt und schimmelig vorgefunden, und im Garten liegt Schnee. Da dachte ich, es lässt sich auch Leben in dieses Haus bringen. Und so machte ich, um wieder für etwas Trockenheit und Leben zu sorgen, im Kamin Feuer und öffnete Türen und Fenster, um die Sonne hereinzulassen, genau wie unsere trunksüchtige Tante, die immer Feuer machte und die Türen öffnete.
    Auch ging ich die Freunde besuchen, vor allen anderen Paol dal Fun Filippin, der mich sofort nach meinem Befinden fragte, weil ich so schlecht aussähe. Dann fragte er, wie es meinem Bruder Bastianin ginge, der in Udine im Gefängnis saß. Ich wusste nichts von Bastianin, und so sagte ich Paol auch, dass ich keine Neuigkeiten von meinem Bruder hätte, seitdem sie ihn eingesperrt hatten. Paol berichtete, dass die Käserei gut ging und er sehr zufrieden sei, und wenn ich nicht gewesen wäre, hätte es für ihn und seine Familie schwarz ausgesehen, und am liebsten würde er aus Dankbarkeit den Boden küssen, auf dem ich gegangen war. Ich erwiderte, er solle besser nirgendwo hin küssen, das diene zu nichts, und ich sei glücklicher als er selbst, wenn es ihm gut ginge. Und als machte ich mir wirklich Sorgen, fragte ich ihn noch zum Schein, ob er Raggio irgendwo gesehen hätte, und er gab mir zur Antwort, was ich eh schon wusste, dass ihn nämlich niemand mehr im Dorf gesehen hatte.
    Ich verabschiedete mich von Paol dal Fun und ging noch auf einen Sprung zu Felice Corona Menin, vor allem, um zu sehen, ob die kleine Neve immer noch weinte, wenn ich in ihre Nähe kam. Sie weinte. Ich stand noch in der Tür, da fing sie an zu schreien, als würde man ihr mit der Hippe den Kopf abschneiden, und so musste ich Felice von draußen begrüßen. Da sagte er zu seiner Frau, sie solle doch ein wenig mit der Kleinen spazieren gehen, dann bat er mich herein und fragte mich, was es Neues gab.
    Wir sprachen über dies und das, und auch er fand, dass ich gar nicht gut aussah. Dann fragte ich noch zum Schein, ob er Raggio gesehen hätte, und wie schon Paol dal Fun, gab er zurück, er wüsste nicht, seit wie vielen Monaten er ihn nicht mehr gesehen hatte.
    Wir sprachen noch ein wenig über alles Mögliche, und am Ende sagte ich, es tue mir leid, dass Neve immer weinen musste, wenn sie mich sah. Dann kehrte ich in mein Haus zurück, um mein Schicksal weiter im Milchheft aufzuschreiben. Denn jetzt wurde mir alles immer klarer, und so wusste ich auch, welches Schicksal mich erwartete.

Jetzt sitze ich hier am aufgeklappten Ecksekretär und schreibe Zeile für Zeile, genau wie damals zu meiner Schulzeit, als ich hier am selben Platz saß, um die Hausaufgaben zu machen, und meine Mama saß dann dort vor dem anderen Eckschrank und versuchte noch etwas von mir zu lernen, weil sie weder lesen noch schreiben konnte. Vor mir oben auf dem Sekretär steht noch der Milchbottich, den meine Tante dort hingestellt hatte, mit der Aufschrift von Maddalena Mora am Boden: »Wer tötet, muss sich selbst töten«, hatte meine Meisterin geschrieben. Auch die Hochzeitsringe meiner Mama und

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