Im Totengarten (German Edition)
grässliche Justizirrtum noch zementiert.
Ihre Zeichnungen waren erheblich interessanter als die Texte. Entwurzelte Bäume, Kreaturen, die Grimassen schnitten, und vor allem ein abstraktes Muster – ein verzerrter fünfzackiger Stern, der über einem Rechteck hing – tauchte auf fast jeder Seite auf.
Während ich mich durch die eselsohrigen Notizen kämpfte, wünschte ich, ich hätte Schutzhandschuhe an, und am Ende schob ich das Papier erleichtert in den Briefumschlag zurück.
Die Entscheidung, was ich nun unternehmen sollte, fiel mir nicht gerade leicht, weil die Auswahl alles andere als berauschend war. Ich könnte schlafen, etwas von dem faden Essen, das mir die Hotelküche servierte, zu mir nehmen oder auf dem Laufband rennen, ohne dass ich auch nur ansatzweise von der Stelle kam.
Während ich in meine Joggingschuhe stieg, klingelte mein Handy, und ich sah auf dem Display, dass es meine Freundin war.
»Lola. Schön, von dir zu hören. Wie geht es dir?«
Sie stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Lars hat eben angerufen. Gleich nach seiner Ankunft in Stockholm hat ihn die Polizei dort festgesetzt.«
»Das überrascht mich nicht.« Vor mir sah ich Lars, der mit nichts als einem charmanten Lächeln angetan durch meine Wohnung lief. »Und was hat er zu seiner Verteidigung gesagt?«
»Er fühlt sich hundeelend, weil er mich verletzt hat. Das habe ich seiner Stimme deutlich angehört.«
»Und ich wette, er hat jede Menge Ausreden parat. Vielleicht eine schlimme Kindheit oder dass er in die Fänge von Kredithaien geraten ist?«
»Er liebt mich, Al«, klärte mich meine Freundin schluchzend auf. »Ich weiß, dass er mich liebt. Was soll ich jetzt bloß machen?«
»Nichts, Schätzchen. Weil du nichts machen kannst.«
»Ich könnte doch nach Schweden fliegen, oder?«
»Das solltest du nicht jetzt sofort entscheiden, Lo. Denk erst mal an deine Show. Warum kommst du nicht morgen zum Frühstück zu mir ins Hotel?«
»Oh, Al, ich bin nicht so wie du.« Es folgte eine lange Pause, während meine Freundin mit den Tränen rang. »Ich brauche ihn. Ich komme nicht allein zurecht.«
»Natürlich kannst du das. Du bist viel stärker, als du denkst.«
Sie kämpfte gegen einen neuerlichen Schluchzer an. »Wann soll ich morgen kommen?«
»Gegen neun?«
»Tut mir leid, dass ich im Augenblick so fertig bin.«
»Kopf hoch, Schatz. Morgen früh erzählst du mir dann alles ganz genau.«
Mein Wunsch nach Bewegung hatte sich gelegt. Im Vergleich zu Lolas Elend kam mir das Gerenne auf dem Laufband noch sinnloser vor, als wäre ich eine Laborratte, die ihren eigenen Schwanz jagt. Also legte ich mich wieder auf mein Bett und starrte abermals die weiße Decke an, die so tadellos gestrichen war, als gälte neuerdings für Flecken ein gesetzliches Verbot.
Mitten in der Nacht riss mich das neuerliche Klingeln meines Handys aus dem Schlaf. Ich musste halb ohnmächtig gewesen sein, denn ich brauchte einen Augenblick, bis ich wusste, wo ich war. Alvarez hatte mir eine SMS geschickt, doch auch wenn ich ihn dafür verfluchte, hievte ich mich aus dem Bett. Während ich mich anzog, drang Meads’ gleichmäßiges Schnarchen durch die Tür. Vielleicht träumte er von Wrestlern mit orangeglänzender Haut, die mit riesigen antiken Vasen nach einander warfen, oder vielleicht war er auch zu unschuldig für schlechte Träume jeder Art. Auf jeden Fall schlich ich auf Zehenspitzen an ihm vorbei, ohne dass er etwas davon mitbekam. Er war nicht gerade der ideale Bodyguard – furchtsam wie ein kleines Kind und zugleich vollkommen taub und blind für jedwede Gefahr.
Alvarez wirkte noch strenger als gewöhnlich, als ich in die Eingangshalle kam. Etwas hatte auch den allerletzten Rest seines Humors neutralisiert, und er machte, ohne mich auch nur zu grüßen, auf dem Absatz kehrt.
Als wir auf die Straße traten, wünschte ich, ich hätte meinen Schal und meine Handschuhe dabei. Die dicke Frostschicht, die bereits auf allen Autodächern und den Straßenlampen lag, wirkte wie grobkörniger Zuckerguss. Alvarez marschierte vor mir und ruderte dabei so drohend mit den Armen, als bekäme jeder, der ihm in die Quere käme, sofort einen Schlag von ihm verpasst. Kaum jedoch saß er in seinem Wagen, bröckelte die eisige Fassade, und er ließ die Faust gegen das Lenkrad krachen, als hätte es sich eines Verbrechens schuldig gemacht.
»Dieser verdammte Job«, murmelte er. »Er fordert alles.«
Ich massierte ihm die Schulter und wartete schweigend ab.
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