Im Totengarten (German Edition)
Seine Muskeln waren allerdings so angespannt, dass er meine Berührung sicher gar nicht spürte.
»Sag mir, was passiert ist«, bat ich ihn nach einem Augenblick.
»Das wirst du gleich mit eigenen Augen sehen«, antwortete er, ohne dass er seinen Kopf vom Lenkrad nahm.
Schließlich fuhr er los, und wir rasten die Southwark Street hinauf. Zur Abwechslung waren die Straßen einmal völlig frei, und die schwarze Silhouette der Tate Modern ragte drohend wie ein Schläger auf dem Spielplatz über den kleineren Häusern der Umgebung auf.
Es ging weiter Richtung Waterloo, und nicht weit von uns entfernt schlief wahrscheinlich Sean in seiner Wohnung, wo es immer wunderbar nach Wein und nach Gewürzen roch.
Mir kam gar nicht der Gedanke, Alvarez zu fragen, was das Ziel unseres spontanen Ausflugs war. Ich ging einfach davon aus, dass er gute Gründe dafür hatte, mich in tiefster Nacht noch einmal in die Kälte rauszuzerren.
Schließlich hielten wir in einer schmalen Sackgasse, in der wegen der Streifen- und des Krankenwagens, die bereits dort standen, ein Durchkommen fast nicht mehr möglich war. Abgesehen von einem aufgegebenen Laden an der Ecke sowie einer Reihe kleiner Lagerhäuser und Garagen links und rechts der Straße gab es kaum etwas zu sehen.
Burns lehnte an einem Laternenmast und bewegte sich auch nicht, als ich in seine Richtung ging. Vielleicht hatte er Bewegung, gleich in welcher Form, inzwischen endgültig entsagt.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Alice.« Im Licht der Lampe kam mir sein Gesicht noch weißer als gewöhnlich vor. »Ich fürchte, es ist wieder mal so weit.«
Am liebsten hätte ich geschrien: »Ich habe es Ihnen die ganze Zeit gesagt.« Doch zumindest hatte ich jetzt den Beweis dafür, dass Will an diesen Morden nicht beteiligt war.
»Dann brauchen Sie ja wohl keinen Seelenklempner, sondern einen Pathologen«, stellte ich mit rauer Stimme fest.
Burns starrte mich aus seinen kleinen Äuglein an. »Ich glaube, dass Sie das Opfer kennen, Alice, und wir wollen, dass Sie sie identifizieren.«
Mein Herz zog sich zusammen, als ich hinter ihm an den Polizeiwagen vorbei in Richtung eines weißen Plastikzeltes lief, das neben einer Reihe Müllcontainer stand. Sofort hüllte mich der Gestank von verrottenden Früchten und etwas noch viel Schlimmerem, etwas wie faules Fleisch, ein, und ich hielt eilig eine Hand vor meinen Mund.
Die vertraute schwarze Plane lag ein paar Meter von mir entfernt.
»Sind Sie bereit?«, erkundigte sich Burns.
»So bereit, wie es nur geht.«
Er schlug so vorsichtig die Plane auf, als wäre das Mädchen vielleicht noch am Leben, und Michelle sah mich erwartungsvoll aus ihren blauen Augen an, als hätte sie mich schon vor Wochen irgendwas gefragt und warte noch immer darauf, dass ich endlich eine Antwort gab.
»Oh Gott.« Die Reihe wilder Flüche, die sich urplötzlich auf meiner Zunge drängte, machte mir das Atmen schwer.
»Es ist Michelle, nicht wahr?«, murmelte Burns. »Das Mädel, dem Sie beim Laufen begegnet sind.« Er sprach wieder mit seinem schottischen Akzent. Immer wenn er unter Druck stand, wurden die Vokale lang.
Ich nickte stumm, ohne ihn dabei anzusehen.
Als ich mich auf den Gehweg kniete, schmolz der Frost durch meine Jeans, und ich zwang mich, noch einmal aufzusehen. Ihr Gesicht war vollkommen zerstört. Zwischen ihre Brauen war ein tiefes Kreuz geschnitten, so, als hätte sie einer bizarren Sekte angehört, und in ihre Wangen waren unzählige rohe, kreuz und quer verlaufende Linien eingeritzt. Die gezackte Schnittwunde an ihrem Hals wies eine dicke Kruste getrockneten Blutes auf, doch das Einzige, woran ich mich erinnern konnte, war der Blick, mit dem sie mir erzählt hatte, sie würde bald aufs College gehen. Dabei hatte sie gleichzeitig amüsiert und ängstlich ausgesehen, als könnte sie einfach nicht glauben, dass ihr tatsächlich noch irgendjemand eine Chance gab.
»Darf ich ihre Augen schließen?«, fragte ich.
»Das wird den Spurensicherern wahrscheinlich nicht gefallen«, meinte Burns, nickte dann aber zögernd mit dem Kopf.
Ihre Lider kratzten an der Innenfläche meiner Hand, und als wäre sie entschlossen, sich die Welt noch möglichst lange anzusehen, blieben ihre Augen erst nach zweimaligem Drücken zu.
Keuchend setzte ich mich auf den Bordstein und kämpfte verzweifelt gegen meinen Brechreiz an. Meine Stiefel hatte ich auf einen Gitterrost gestellt, und ich hatte das Gefühl, als flösse alle meine Kraft durch die Sohlen meiner
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