Im Totengarten (German Edition)
Füße in die Kanalisation der Stadt. Wie gewohnt war Alvarez der Herr der Lage. Mitglieder der Spurensicherung schwirrten um ihn herum und warteten darauf, dass er ihnen irgendwelche Anweisungen gab.
Erst nach über einer Stunde fuhr mich Burns zurück in mein Hotel. Er sagte lange nichts, und ich nahm an, er wäre zu erschöpft, um noch zu reden, schließlich aber holte er tief Luft und sah mich von der Seite an.
»Wie ich höre, scheinen Sie und Ben einander ziemlich zugetan zu sein.«
»Wer hat Ihnen das erzählt?«
»Das hat mir ein kleines Vögelchen ins Ohr gezwitschert.« Grinsend klopfte er sich an die Nase. »Gott sei Dank kommt dadurch bei der Sache auch was Gutes raus.«
Ich starrte durch das Fenster auf den leeren Fluss. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, dass Alvarez in sein Büro marschiert gekommen war, um ihn darüber aufzuklären, wie es um uns beide stand.
Burns wirkte ungewöhnlich ernst. »Meine erste Reaktion, als ich davon hörte, war tatsächlich Erleichterung. Er ist ein furchtbar komplizierter Mensch, aber Sie kriegen ihn schon hin.«
»Dann kriegt er deshalb also keine Scherereien?«
»Nicht wenn diese Sache erst mal unter uns bleibt«, antwortete Burns. »Und wenn das alles erst einmal vorbei ist und Sie beide wieder Ihre ganz normale Arbeit machen, interessiert sich niemand mehr dafür.«
Es hätte mich nicht überrascht, hätte Burns mir gratuliert und mich zum Zeichen seiner Freude vielleicht sogar noch geküsst, aber er begnügte sich damit, mich ins Hotel und dort ins Treppenhaus zu eskortieren, wo wir uns jedoch schon auf dem ersten Absatz trennen mussten, weil er völlig außer Atem war.
Als ich ihm zum Abschied winkte, schlurfte er gesenkten Hauptes durch das Foyer. Der Gedanke, wieder in die Kälte rauszumüssen, wo in einer Sackgasse ein Haufen unbeantworteter Fragen auf ihn wartete, sagte ihm anscheinend nicht besonders zu.
Ich betrat auf leisen Sohlen meine Suite, wo der brave Meads noch immer wie ein Baby auf dem Sofa schlief, und fragte mich, als ich an ihm vorüberschlich, nach wie vielen Tagen er wohl merken würde, wenn mich irgendwer entführte oder ich aus seiner Obhut floh.
31
Es war bereits nach vier, bis ich endlich wieder schlief. Ich brachte es nicht über mich, das Licht zu löschen, denn sobald ich meine Augen schloss, sah ich Michelle, die mich verwundert anstarrte, als könnte sie nicht glauben, dass ich sie derart jämmerlich im Stich gelassen hätte. Die letzten fünf Tage ihres Lebens mussten einfach grauenhaft gewesen sein – sie hatte zitternd in der Dunkelheit gelegen und darauf gewartet, dass der Kerl sie wieder schnitt. Abermals wurde mir schlecht. Was für eine Art von Mann erhielt eine junge Frau am Leben, während er ihr jeden Zentimeter ihrer Haut zerriss? Die Attacken auf Michelle zeugten von einer Steigerung seiner Besessenheit. Suzanne Wilkes’ Gesicht hatte er nicht berührt, das von Michelle hingegen systematisch ruiniert. Vielleicht war es gut, dass sie gestorben war. Besser, als allmorgendlich mit seinem zerstörerischen Werk konfrontiert zu werden, wenn sie mit der Zahnbürste im Mund vor ihrem Badezimmerspiegel stand. Denn keine Hauttransplantation der Welt hätte alle diese Wunden je verdeckt.
Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig ins Bad, damit meine Hotel-Lasagne die Toilettenschüssel traf. Danach fühlte ich mich hohl und so leicht und leer wie einer der getrockneten Vogelknochen, die man manchmal während eines Strandspaziergangs fand. Vollkommen erledigt legte ich mich wieder hin und schlief mit einem Mal problemlos ein, als hätte jemand einen Knopf gedrückt und meine Erinnerung gelöscht.
Das Klingeln meines Weckers hatte ich anscheinend nicht gehört, denn als ich erwachte, war es bereits zehn vor neun. Da Lola um neun zum Frühstück kommen würde, schleppte ich mich ins Bad und drehte die Dusche auf. Zumindest würde ich durch ihren Herzschmerz kurzfristig von meinem eigenen Elend abgelenkt und dächte erst mal nicht über irgendwelche Todesdrohungen und Narben nach.
Bis ich fertig angezogen war, hatte Angie Meads ersetzt. Ihre für gewöhnlich aufgekratzte Stimmung jedoch war gedämpft.
»Ich habe gehört, was letzte Nacht geschehen ist«, murmelte sie. »Sind Sie okay?«
»Halbwegs.« Ich nickte knapp, und sie sah mich mit einem halben Lächeln an.
»Sie lassen sich nicht gerne in die Karten schauen, stimmt’s, Alice?«
»Was gibt es da schon groß zu sehen? Sie haben die dritte tote junge Frau
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