Im Totengarten (German Edition)
seiner Einbildung entsprungen war, aber zumindest schien das Essen ihn ein wenig zu beruhigen. Und vielleicht gelang es mir später ja sogar, ihn dazu zu überreden, mal wieder ein Bad zu nehmen, ehe er wieder verschwand. Inzwischen füllte der Geruch von seinen feuchten Kleidern und dem von den ganzen Chemikalien sauren Schweiß, der überall an seinem Körper klebte, die ganze Küche.
Bis ich geduscht und was gegessen hatte, lag Will auf der Couch im Wohnzimmer und schlief so tief und fest, als hätte er seit Wochen kein Auge zugemacht. Gerade als ich losgehen und eine Sonntagszeitung kaufen wollte, erschien Lola, eingehüllt in meinen blauen Lieblingskimono, im Flur.
»Morgen, Discoqueen.« Sie sah mich mit einem müden Lächeln an. »Na, wie fühlst du dich?«
»Ein bisschen k.o. Will pennt da drüben auf der Couch.«
Sofort hellte sich Lolas Miene auf. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Will gehabt, doch als sie die Tür des Zimmer öffnete und ihn dort liegen sah, riss sie entsetzt die Augen auf. Wie er da auf dem Sofa lag, sah er wie eine lebende Vogelscheuche aus.
»Mein Gott«, wisperte sie. »Wie lange ist er schon in diesem Zustand?«
»Seit ungefähr sechs Monaten, wobei die letzten Wochen mit Abstand die schlimmsten waren. Er weigert sich, zu einem Arzt zu gehen, weil er denkt, der schickt ihn zurück ins Krankenhaus. Und er wirft jede verdammte Droge ein, die er in die Hände kriegt, außer dem Lithium, das er braucht.«
Lola setzte sich neben mich und drückte meine Hand. »Warum hast du mir nichts davon erzählt, Al?«
»Was hättest du schon tun können? Ich war mit ihm bereits bei jeder Menge Spezialisten, aber kaum fängt die Behandlung an, läuft er davon.«
»Gott, du Arme.« Sie sah mich aus ihren grünen Augen an. »Wann hast du dich zum letzten Mal so richtig ausgeheult?«
»An meinem dreißigsten Geburtstag. Da hatte ich zu viel Wodka getankt.«
»Du machst mir Angst, Al. Echt. Ich fange schon an zu flennen, wenn der Bus Verspätung hat, aber du hast offenbar vergessen, wie man weint. Du bist immer so verdammt beherrscht.«
»Das sagen alle.«
»Weil es stimmt.«
»Irgendjemand in meiner Familie muss sich ja wohl beherrschen können«, schnauzte ich sie an.
»Aber du musst nicht die ganze Last allein tragen.«
»Oh doch.« Ich funkelte sie böse an. »Ich bin schließlich alles, was er hat.«
Sie schlang einen Arm um meine Schulter und blickte mich fragend an. »Weißt du, was du mal wieder machen musst?«
»Ich wage gar nicht, es mir vorzustellen.«
»Guck mal wieder Love Story, und dann tu dir einen riesigen Gefallen, und heul dir dabei die Augen aus dem Kopf.«
Lola zog sich mit einem Teller Toast ins Bett zurück, und ich zermarterte mir abermals das Hirn. Ich hatte bereits mit Narcotics Anonymus telefoniert und die Adressen von Entzugskliniken in England und im Ausland recherchiert, aber all das nützte nichts, solange mein Bruder sich nicht mit einer Behandlung einverstanden erklärte. Er lag noch immer wie bewusstlos mit geballten Fäusten auf der Couch, als kämpfe er im Traum gegen irgendwelche Monster an.
Ich schlich mich auf Zehenspitzen in den Flur und klappte seinen Rucksack auf. Er war vollgestopft mit Socken, Hemden, Jeans, die vor Wochen zum letzten Mal gewaschen worden waren. Daneben fand ich eine Ausgabe von Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten, e inen Schnipsel Papier, auf dem eine Reihe Telefonnummern gekritzelt war, und ein Päckchen aus Silberfolie, das nicht größer als mein Daumennagel war. Ich hielt es mir vor die Nase: Angesichts des seltsamen Geruchsgemischs aus Moschus und Melasse schien es ein Klumpen Cannabisharz zu sein, und ich wollte gar nicht wissen, was für andere Drogen er unter den Sitzen in seinem Bus verbarg.
Gerade als ich wieder alles in den Rucksack packen wollte, fiel mir ein seltsames Glitzern auf. Ich fischte den Gegenstand heraus, und dann lag er kalt und kompakt in meiner Hand. In der Schule hatte unser Lehrer uns einmal Messer gezeigt und uns davor gewarnt, dass sie tödlich wären, weshalb plötzlich alle Jungen ganz versessen darauf gewesen waren. Und in der Mittagspause waren dann ein paar von ihnen hinter dem Naturwissenschaftstrakt verschwunden und hatten mit den Waffen, die sie hatten, voreinander geprotzt.
Ich löste den Sicherheitsverschluss, und eine fünfzehn Zentimeter lange, rasiermesserscharfe Klinge klappte auf.
Urplötzlich tauchte aus dem Nichts ein Bild von meinem Bruder als Kind vor meinem
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