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Im Totengarten (German Edition)

Im Totengarten (German Edition)

Titel: Im Totengarten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Rhodes
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geistigen Auge auf. Er hatte immer völlig passiv dagestanden, wenn mein Alter Herr auf mich oder auf meine Mutter losgegangen war. Aus irgendeinem Grund hatte es ihn selbst nie erwischt. Er musste immer nur zusehen, und bisher hatte ich mich nie nach dem Grund dafür gefragt. Ich hatte einfach immer angenommen, er hätte den Weg des geringsten Widerstands gewählt und einfach zu viel Angst gehabt, um Hilfe holen zu gehen. Aber sein Gesicht hatte nicht nur reine Angst vor unserem Vater ausgedrückt, sondern ein Gemisch verschiedener Gefühle: Aufregung, voyeuristisches Vergnügen und vielleicht sogar einen gewissen Neid auf die Macht, die mein Vater über uns alle besaß.
    Ich starrte auf das Messer und klappte es wieder zu. Will bewegte sich inzwischen leicht und wachte sicher langsam auf, weshalb ich die Waffe wieder in die Tasche warf.
    Bis zum Abend hatte er sich ein wenig beruhigt, ließ sich von Lola ein heißes Bad einlassen und fuhr nicht einmal zusammen, als sie einen Witz darüber machte, wie sein Bart gewachsen war.
    »Stehst du vielleicht plötzlich auf den Gammlerlook, William?«
    »Meine Rasierer waren alle, das ist alles.«
    »Du kannst einen von meinen nehmen, wenn du willst. Los, befrei dein hübsches Gesicht von diesem Wust.«
    Von meinem Zimmer aus hörte ich zu, wie Lola versuchte, mit Will zu flirten, als wäre nichts geschehen. Er hatte schon seit Monaten nicht mehr so entspannt gewirkt, bekam urplötzlich sogar mühelos komplexe Sätze hin und sprach nicht mehr von irgendeinem Fremden, der nachts bei ihm erschien. Vielleicht ging es ihm ja gut, wenn er mit anderen zusammen war, und er hatte nur mit mir als seiner Schwester ein Problem.
    Es war kurz nach neun, und ohne jeden Zweifel würde Alvarez behaupten, dass es sträflicher Leichtsinn war, laufen zu gehen, aber meine Schuhe standen einfach zu verlockend neben meinem Schrank. Als ich auf die Straße trat, war der Streifenwagen endlich nicht mehr da. Vielleicht war es meinen Bewachern zu langweilig gewesen, draußen in der Kälte rumzusitzen, oder sie hatten Morris Cley gefunden und schon wieder in den Knast geschafft.
    Ich brauchte eine halbe Ewigkeit, bis ich meinen Rhythmus fand. Eine Zeitlang lief ich entlang des Flussufers nach Westen und versuchte mit schmerzenden Beinen, langsam Tempo zuzulegen, doch auf Höhe der Tate Modern kam es mir so vor, als ob ich ewig rennen könnte, und so folgte ich dem Fluss durch Chelsea und durch Putney, bis er nicht mehr zwischen Straßen, sondern zwischen Feldern floss, und zwang mich erst am Lambeth Palace zu einem kurzen Stopp. Ein Wachmann blickte böse durch den Zaun. Vielleicht dachte er, ich wollte einen Satz über das Gitter machen und dann Steine auf die Buntglasfenster werfen, doch ich atmete nur fünfmal durch und lief dann wieder los.
    Auf dem Weg zurück wählte ich eine Abkürzung und lief an einer Warteschlange vor dem Burgerstand am Bahnhof Waterloo vorbei und dann weiter durch die Art von Straßen, die aus der Sicht von Alvarez für Frauen zu gefährlich waren, da es dort nur halbverfallene Wohnblocks für Sozialhilfeempfänger und dazwischen ein paar verbarrikadierte Billigläden gab.
    Aus irgendeinem Grund setzten ausgerechnet in Höhe der Kathedrale von Southwark heftige Seitenstiche bei mir ein. Keine hundert Meter weiter lag Seans Wohnung, und als ich das Licht hinter den Fenstern brennen sah, hätte ich am liebsten bei ihm angeklopft, mir ein heißes Bad einlassen und den Rücken schrubben lassen und mich dann gemütlich in sein Bett gelegt. Doch dann wäre ich bestimmt bereits nach wenigen Minuten abermals dem Druck seiner Erwartungen oder irgendwelchen vorwurfsvollen Blicken ausgesetzt gewesen, und deshalb ließ ich es sein.
    Sobald ich weiterlief, setzten die Seitenstiche wieder ein, so dass ich mich neben dem Eingang eines schmuddeligen Pubs erschöpft auf eine Mauer sinken ließ. Auf dem Schild über der Tür sah man einen grinsenden Engel mit einem schiefsitzenden Heiligenschein.
    In der Hoffnung, dass der Schmerz verging, beugte ich mich etwas vor.
    »Alles in Ordnung, Schätzchen?«
    Eine stark geschminkte Frau mit dunklem Haar und einem atemberaubend kurzen Rock schwang sich neben mich.
    »Danke, ich bin nur ein wenig außer Atem.«
    »Dann haben Sie es wohl ein bisschen übertrieben.«
    »Sieht so aus.«
    Sie hatte wahrscheinlich ungefähr mein Alter, doch die tiefen Furchen links und rechts von ihren Mundwinkeln sahen so aus, als hätte sie bereits mit einer Fluppe

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