Im Totengarten (German Edition)
zweihundertneununddreißig Schreiben, die auf Antwort warteten. Ich machte meine Augen zu und versuchte, mir zweihundertneununddreißig Menschen vorzustellen, die vor der Bürotür Schlange standen, damit ich ihnen erklärte, wie sie ihr Leben in den Griff kriegten. Der Gedanke löste ein komisches Gefühl in meinem Magen aus.
Es war zu kalt, um ganz normal zu Fuß zu gehen, weshalb ich abermals in meine Laufklamotten stieg. Da mein T-Shirt eklig feucht war, rannte ich, damit mir warm würde, noch schneller als gewöhnlich durch das Treppenhaus. Wie immer war dort kein Mensch zu sehen, und ich fragte mich, was wohl passieren würde, käme mir tatsächlich einmal irgendjemand in die Quere, während ich in Richtung Ausgang flog. Wahrscheinlich wäre es wie ein Zusammenstoß zweier Skifahrer bei Höchstgeschwindigkeit.
Draußen bahnte ich mir einen Weg durch das Gedränge all der Leute, die mit vor Erschöpfung und Kälte grimmigen Gesichtern ebenfalls zu dieser späten Zeit auf dem Heimweg waren. Der Schneeregen klatschte mir ins Gesicht, bis ich nur noch verschwommen sah, und innerhalb von wenigen Sekunden war mein T-Shirt völlig durchgeweicht, doch inzwischen war mir warm genug, und so sah ich lächelnd auf den Fluss zu meiner Linken, der urplötzlich hinter einer Häuserwand verschwand, als hätte er nie existiert.
Als ich nach Hause kam, war Wills Bus mal wieder nirgendwo zu sehen. Ich riss mir die Laufsachen vom Leib und breitete meinen Bademantel, um ihn etwas anzuwärmen, auf dem Handtuchhalter aus. Ich wollte schnurstracks duschen, die Anstrengung des Tages von mir abwaschen und mich danach aufs Sofa werfen, um zur Abwechslung mal einfach nichts zu tun. Auf dem Weg ins Wohnzimmer jedoch entdeckte ich die Nachricht meiner Freundin auf dem Küchentisch: »Es gibt etwas zu feiern!!! 9 Uhr im Vinopolis . Komm bloß nicht zu spät.« Offensichtlich hatte sie beim Vorsprechen endlich mal Glück gehabt. Ich knüllte den zartgrünen Briefumschlag, auf den sie gekritzelt hatte, kurzerhand zusammen und marschierte, fest entschlossen, mir den ruhigen Abend ganz allein zu Hause nicht kaputtmachen zu lassen, Richtung Couch.
Offenbar war ich kurz eingenickt, denn als ich das nächste Mal auf meine Uhr sah, war es schon halb neun, und ich setzte mich voller Schuldgefühle auf. Lola war so gut zu Will gewesen, und es war ihr irgendwie gelungen, seine Sicht des Lebens einfach dadurch zu verändern, weil sie sich für ihn interessierte. Deshalb zwang ich mich, auch wenn es mich einige Überwindung kostete, noch einmal aufzustehen.
Der Spiegel in meinem Schlafzimmer zeigte mir eine Frau, die besser auf sich achten sollte, denn mit ihren wirr um ihren Kopf hängenden, feuchten Haaren sah sie ungepflegt und vollkommen erledigt aus. Da es jedoch viel zu anstrengend gewesen wäre, das Make-up, das ich unter der Dusche abgewaschen hatte, noch mal zu erneuern, zog ich einfach eine Jeans, Bikerstiefel sowie einen schwarzen Pulli an und stapfte los.
Der Platz vor dem Haus war menschenleer. Zum Glück war niemand außer mir wahnsinnig genug, bei dieser Kälte noch mal loszuziehen.
Sicher warteten auch keine irren Psychopathen irgendwo im Dunkeln, um mir die Bedeutung wahrer Schmerzen zu erklären, bevor sie mich in Stücke hackten, dachte ich, schwang mich auf mein Rad, strampelte mit Höchstgeschwindigkeit die Tooley Street hinab und stieß, ohne auch nur meine Lippen zu bewegen, eine Reihe von Verwünschungen gegen die arme Lola aus.
Im Vinopolis herrschte Hochbetrieb. Paare drängelten sich an Tischen, auf denen gerade mal eine Flasche Wein, eine Kerze und ein Teller Tapas Platz fanden. Während sich meine Augen noch an die Dunkelheit gewöhnten, führte mich ein Kellner durch den überfüllten Keller bis an einen freien Platz in einer Ecke, wo ich auf Lola wartete, die aber auch um zehn nach neun noch nirgendwo zu sehen war. Ein anderer Kellner stellte eine Flasche Weißwein sowie einen Teller Tapas für mich hin, und ich sah verwundert auf die Feuerbohnen in Tomatensauce, die weißen, in Öl schwimmenden Anchovis und die kleinen Quadrate spanischen Omelettes.
»Das habe ich nicht bestellt.«
Er sah mich lächelnd an. »Das brauchten Sie auch nicht, denn das hat bereits jemand anders für Sie getan.«
Offenbar war Lola bereits vor mir angekommen und hatte die Bestellung aufgegeben, doch noch immer konnte ich sie nirgends sehen. Abgesehen vom Kerzenlicht, das über den Tischen tanzte, lag der Raum in vollkommener Dunkelheit
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