Im Totengarten (German Edition)
und wirkte weniger wie eine Bar als wie ein finsteres Verlies. Es gab keine Fenster, überall drängten sich Menschen, und es kam mir vor, als wäre der Ausgang kilometerweit von meinem Platz entfernt. Meine Brust zog sich zusammen, deshalb schob ich mir zur Ablenkung erst eine der salzigen Anchovis und dann einen Löffel süßer, nach Knoblauch schmeckender Bohnen in den Mund.
Plötzlich ging direkt vor mir ein Strahler an. Eine große Frau in einem langen schwarzen Kleid trat auf ein kleines Podium und hielt sich ein Mikro vor den leuchtend rot geschminkten Mund. Ich rieb mir überrascht die Augen und richtete mich kerzengerade auf. Lola hatte meines Wissens bisher noch nie gesungen, außer wenn sie in der Badewanne lag. Jemand schlug ein paar Takte auf dem Klavier an, und Lola wandte sich mit rauer, verführerischer Stimme an das Publikum, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan.
»Warum vergessen wir nicht eine Zeitlang, dass dort draußen Winter ist?«
Ihr erstes Lied war eine langsame, rauchige Version von Summertime , für die sie tosenden Applaus bekam. Wie so oft schon hatte Lola es geschafft.
Das bewunderte ich so an ihr: Wenn es mit der Schauspielerei nicht funktionierte, fing sie an zu tanzen, und wenn sie auch da erfolglos war, brachte sie sich kurzerhand das Singen bei.
Jetzt seufzte sie sich durch den nächsten Schmusesong, und die Männer warfen ihr scharenweise sehnsüchtige Blicke zu.
Mein Blick fiel auf einen Tisch am anderen Ende des Kellers. Sean lehnte an der nackten Backsteinwand und war in ein Gespräch mit einer jungen, hübschen schwarzhaarigen Frau vertieft. Dann machte er anscheinend einen Scherz, denn sie warf lachend ihren Kopf zurück, als hätte sie in ihrem Leben nie zuvor etwas so Lustiges gehört, und legte dabei ihre Hand auf seinen Arm. Vielleicht musste sie sich vergewissern, dass es diesen Traummann wirklich gab. Ich sah mich suchend nach dem Ausgang um, während Lola eine meiner Lieblingsballaden von Nina Simone zum Besten gab. Ich habe keine Ahnung, weshalb ich plötzlich derart aus dem Gleichgewicht geriet. Vielleicht hatte ich ihn als Reserve in der Hinterhand behalten wollen, ohne dass es mir bewusst gewesen war. Ich warf einen zweiten Blick in seine Richtung. Inzwischen waren die zwei beim Händchenhalten angelangt, und er würde sicher nicht viel Zeit verlieren, bis er mit ihr in seine Wohnung ging, um ihr zu demonstrieren, wie phänomenal er in der Kiste war. Oder vielleicht hatte er das auch bereits getan. Er war immer noch so attraktiv, dass es schon fast zum Lachen war, wie all die Schauspieler in Emergency Room, die aussahen, als brächten sie jeden wachen Augenblick im Fitnessstudio zu.
Plötzlich hob er seinen Kopf, bemerkte meinen Blick, richtete sich kerzengerade auf und ließ die Hand des Mädchens fallen, als hätte er sich daran verbrannt. Ich zwang mich, während der nächsten zehn Minuten wieder Lola meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, doch sobald sie eine Pause machte, stand ich auf und floh aus dem Lokal.
In der kalten Winterluft bekam ich wieder einen klaren Kopf, und sofort löste sich mein Selbstmitleid in Wohlgefallen auf.
»Alice, warte.« Während ich mein Fahrradschloss öffnete, tauchte Sean neben mir auf.
»Geh ruhig wieder rein«, forderte ich ihn lächelnd auf. »Lass dir nicht von mir den Abend verderben.«
»Es ist nicht so, wie es aussieht.« Er rieb sich den Nacken. »Sie hat mich gebeten mitzukommen, um mich etwas aufzuheitern, weiter nichts. Es hat nicht das Geringste zu bedeuten.«
»Hahaha.«
»Es stimmt.« Er legte seine Hand auf den Fahrradsattel und sah mich stirnrunzelnd an. »Deinetwegen kann ich nachts nicht schlafen. Du hast mich völlig um den Verstand gebracht, und ich kann kaum an etwas anderes denken als an dich.«
»Hör zu, Sean. Es ist wirklich schön, dass du jemanden gefunden hast. Lässt du jetzt wohl bitte mein Fahrrad los?«
»Du könntest dir ja wohl zumindest anhören, was ich zu sagen habe.«
Ich schob meine kalten Hände tiefer in die Tasche meiner Jacke. »Also, dann schieß los.«
»Früher oder später wirst du dafür büßen.«
»Wie bitte?«
»Dafür, wie du andere benutzt.« Er verzog wütend das Gesicht. »Früher oder später wird jemand nicht einfach akzeptieren, dass du ihn ohne ein Wort der Erklärung wegwirfst wie ein Stück Müll.« Zitternd vor Kälte oder Zorn beugte er sich über mich, dann aber machte er plötzlich einen Schritt zurück. Vielleicht hatte ihm
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