Im Totengarten (German Edition)
ja sein eigener Zorn Angst eingejagt.
Plötzlich sah er ratlos aus, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er mich eher küssen oder mir eine verpassen sollte, ließ aber zumindest mein Fahrrad los, und erleichtert raste ich davon.
Auf der ganzen Fahrt zurück nach Hause fühlte ich mich schuldig, denn wahrscheinlich hatte Sean mit seinen Vorhaltungen recht. Weshalb fing ich überhaupt Beziehungen mit Männern an, wenn ich die Versprechen, die damit einhergingen, nie hielt? Zwar versuchte ich es immer wieder, doch das Resultat blieb immer gleich.
Als ich wieder in meiner Wohnung war, schrieb ich eine SMS an Will und gratulierte ihm zu dem Besuch bei seiner Therapeutin, ohne eine Antwort von ihm zu bekommen, und auf dem Weg ins Bett sah ich noch einmal aus dem Fenster, doch sein Bus war nach wie vor nirgendwo zu sehen. Keine Ahnung, wo er jetzt schon wieder steckte. Wenn er wollte, machte er die Schotten einfach dicht, und dann wusste niemand, wo er war.
Da mich der Roman, den ich bereits seit Wochen auf dem Nachttisch liegen hatte, auch nicht lockte, löschte ich das Licht, aber selbst im Dunkeln sah ich immer wieder Seans wutverzerrte Züge vor mir.
Trotzdem schlief ich irgendwann anscheinend ein, wurde aber bereits gegen kurz nach drei von irgendwas geweckt. Die Geräusche, die ich durch die dünne Wand des Zimmers hörte, waren unverkennbar. Leises Kichern und ein paar Minuten später das heisere Stöhnen eines Mannes und quietschende Bettfedern. Zur Feier ihres triumphalen Karrierewechsels hatte Lola jemanden mitgebracht, und mir blieb nichts anderes übrig, als mir zähneknirschend anzuhören, wie die beiden sich vergnügten, und erbost die Decke meines Zimmers anzustarren.
Morgen musste ich auf jeden Fall in einer Drogerie vorbeigehen und mir ein Päckchen superstarker Ohrenstöpsel holen, damit ich für den Fall, dass dies der Anfang einer längeren Geschichte wäre, nachts ein Auge zubekam.
12
Als am nächsten Vormittag mein Wecker schrillte, legten Lola und ihr neuer Mann glücklicherweise gerade einmal eine Pause ein. Endlich war das stundenlange Krachen des Kopfteils ihres Bettes an der Wand verstummt.
Ich trat vor den Kühlschrank und trank ein Glas eiskalter Milch. Irgendwie hat Milch schon immer meine Stimmung aufgehellt. Vielleicht weil ihre weiße Farbe so unschuldig und rein aussieht. Oder weil sie mich an meine Grundschulzeit erinnert, in der die Gedanken an die Zukunft nicht über die nächste Pause hinausgegangen waren und ich keinerlei Entscheidungen fällen musste. Ich briet mir zwei Eier in einer Pfütze aus zerlassener Butter und packte sie zwischen zwei Scheiben mit Kümmel bestreuten knusprigen Roggenbrots.
Die lokale Gratiszeitung auf dem Tisch berichtete von einer Gemeinde, die mir noch nie aufgefallen war: Wohltätigkeitsbasare in Gemeindehäusern, eine Kampagne für die Installation von Bremsschwellen in der Tooley Street, die Eröffnung einer neuen Kunstgalerie in der China Wharf. In sämtlichen umliegenden Wohnungen herrschte offenbar ein reges Treiben. Menschen trafen sich dort, eröffneten Geschäfte, veränderten die Welt.
Gerade als ich mit meinem Frühstück fertig war, betrat ein nackter Mann den Flur, und noch während ich seinen durchtrainierten Tennisspielerleib bewunderte, wandte er sich mir zu.
»Suchen Sie vielleicht das Bad?«
»Genau.« Sein Lächeln war vollkommen entspannt. Vielleicht waren Kleider ihm egal und er lief immer nackt herum.
»Letzte Tür links.«
Winkend schlenderte er weiter, als hätte er alle Zeit der Welt, und eine Sekunde später tauchte meine Freundin, nur mit einem Männerhemd und einem seligen Lächeln angetan, bei mir in der Küche auf.
»Na, hattest du einen schönen Abend?«, fragte ich.
Sie warf sich auf den Stuhl mir gegenüber und überließ es der Sprache ihres liebestrunkenen Körpers, mir alles zu erzählen.
»So gut?«
»Sogar noch besser«, seufzte sie. Ihre Augen sahen noch verschlafener und katzenhafter als gewöhnlich aus, und es hätte sicherlich nicht viel gefehlt, und sie hätte sanft geschnurrt.
»Nun erzähl schon. Wie heißt er, und wo hast du ihn entdeckt?«
»Lars. Er arbeitet an der Theke im Vinopolis .«
»Lass mich raten. Er ist Däne, stimmt’s?«
»Schwede.«
Ich nickte. »Das erklärt, warum er vollkommen problemlos splitternackt durch eine fremde Wohnung läuft.«
»Weil sie sich bei ihm zu Hause schließlich ständig nackt im Schnee rollen und mit Birkenzweigen schlagen«, führte Lola
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