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Im Totengarten (German Edition)

Im Totengarten (German Edition)

Titel: Im Totengarten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Rhodes
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einzig ihre nadelspitzen Türme verrieten ihre Existenz.
    Schließlich lief ich gemächlicher zurück und genoss dabei das herrliche Gefühl, dass nichts wirklich von Bedeutung war, das mich nach ausgedehnten Läufen immer überkam. Während auch noch die letzte Anspannung aus meinen Poren wich, fragte ich mich, was überhaupt der Grund für meinen Frust gewesen war. Wen interessierte schon, ob Sean bereits mit einer anderen zusammen war? Wenn Lola wollte, sollte sie ruhig das ganze nächste halbe Jahr lautstarken Sex mit ihrem Typen haben, und auch die Probleme meines Bruders würden sicher irgendwann gelöst.
    Dass sein Bus inzwischen wieder auf dem Parkplatz gegenüber meiner Wohnung stand, wertete ich als gutes Zeichen. Wie nach allen ausgedehnten Läufen war mein Hirn noch leicht vernebelt, als ich an die Fahrertür des Busses klopfte und versuchte, etwas zu erkennen, obwohl die verblichenen blauen Vorhänge hinter den Scheiben zugezogen waren. Also presste ich mein Ohr gegen das Glas, hörte aber nicht das allerleiseste Geräusch. Offenbar hatte der Vortag meinen Bruder vollkommen erschöpft. Nach so langer Zeit, in der er niemanden an sich herangelassen hatte, fühlte sich die tröstliche Berührung durch die Therapeutin sicher seltsam für ihn an.
    Ich ging über den Platz auf meine Wohnung zu und drehte mich noch einmal um. Vielleicht sähe er ja doch verschlafen aus dem Fenster, um zu gucken, von welchem Idioten er um diese frühe Uhrzeit aus dem Schlaf gerissen worden war. Ein paar Meter von seinem Bus entfernt lag ein Haufen schwarzer Plastiksäcke auf dem Bürgersteig. Darauf würde sein Blick als Erstes fallen, wenn er die Vorhänge zurückzog. Also kehrte ich noch einmal um, um sie fortzuräumen, doch der schwarze Haufen stellte sich als Rolle schwarzer Plastikfolie heraus, die auseinanderfiel, als ich an einem Ende zog.
    Eilig warf ich eine Hand vor meinen Mund, doch der Gestank von Exkrementen und Urin, der mir entgegenschlug, bahnte sich trotzdem einen Weg in meinen Hals, und ich hatte das Gefühl, als ob mir mit einem Mal der Bürgersteig entgegenkam. Schließlich aber schoss das Blut zurück in meinen Kopf, meine zuvor verschwommene Sicht wurde allmählich wieder klar, und ich zwang mich, noch einmal hinzusehen.
    Der nackte Frauenkörper war bis auf die Knochen abgemagert, schien aber älter als der des Mädchens vom Crossbones Yard zu sein. Die Narbe an seinem Unterleib, die zu einer schmalen Silberlinie verblichen war, stammte von einer Blinddarmentfernung. All die anderen Narben aber waren frisch und bildeten ein Netz leuchtend roter Kreuze, das fast den ganzen Körper überzog. Einzig das Gesicht hatte der Täter ausgespart. Sie musste einmal wunderschön gewesen sein – mit einer zarten Stupsnase, einem herzförmigen Gesicht und feingeschwungenen schwarzen Brauen. Ihr Mund stand offen, so als hätte sie vor einem Augenblick noch laut gelacht. Aber die letzten Sekunden ihres Lebens mussten grauenhaft gewesen sein. Sie musste wie ein Fisch an Land nach Luft gerungen haben, bevor ihre Lungen zusammengebrochen waren. Bald würde sie neben dem Crossbones-Mädchen in der Kühlkammer des Krankenhauses liegen und vergleichen, wessen Wunden schlimmer waren.
    Mir wurde schlecht, und schwankend trat ich einen Schritt zurück. Plötzlich ging mir auf, dass der Leichnam praktisch direkt neben Wills VW-Bus abgeladen worden war. Also rannte ich zurück und trommelte mit beiden Fäusten gegen die Windschutzscheibe des Gefährts. Dann zerrte ich am Griff der Tür und riss sie mit ängstlich angehaltenem Atem auf. Vielleicht war ihm ja nichts passiert, und er hatte nur vergessen abzusperren. Ich kniete mich auf den Fahrersitz und zwang mich, in den dunklen Innenraum zu sehen. Wills Bett war leer, und nichts wies darauf hin, dass er überfallen worden war. Tatsächlich sah es eher danach aus, als hätte er versucht, ein neues Leben zu beginnen. Denn er hatte stapelweise alte Zeitungen entsorgt, seine Kleider ordentlich gefaltet und die Schuhe paarweise unter der Pritsche aufgereiht. Wahrscheinlich schlief er also irgendwo im Warmen, wo er sicher war.
    Ich hüllte die tote Frau wieder in die schwarze Plastikfolie ein und berührte dabei mit dem Handgelenk ihr eisiges Gesicht. Sie musste mitten in der Nacht dort abgeladen worden sein und war auf dem Bürgersteig erstarrt.
    Schon nach wenigen Minuten hatte ich mein Handy aufgeklappt und die Polizei verständigt, doch inzwischen strömten unzählige Menschen aus

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