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Im Totengarten (German Edition)

Im Totengarten (German Edition)

Titel: Im Totengarten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Rhodes
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nicht verändert, nachdem Dad gestorben war. Und ich wusste ganz genau, warum sie stets anderen die Schuld an allem gab. Weil die Selbstverleugnung schon vor langer Zeit Teil ihres Lebensstils geworden war. Weil sie sich nur auf diese Weise aufrecht hielt. Schließlich hatte unser Vater über Jahre hinweg regelmäßig sturzbetrunken auf der Suche nach dem nächsten Opfer durch die Haustür wanken können, ohne dass es jemals ihre Schuld gewesen war. Solange alle anderen dachten, dass unsere Familie so normal und respektabel wie die ganzen anderen Mittelklassehaushalte in unserer Gegend waren, hatte sie ihre Pflicht erfüllt. Vielleicht hatte es ihr das Herz gebrochen, dass sie Will und mir nicht helfen konnte, als wir klein gewesen waren, aber es war unwahrscheinlich, dass sie je darüber sprach, weil sie ihre wirklichen Gefühle bereits viel zu lange hinter der Maske der Eiskönigin verbarg.
    Wie immer quälten wir uns durch den Brunch. Sie erzählte mir von einem Fest für ehemalige Angestellte der Bibliothek, auf dem sie gewesen war, ihrer ehrenamtlichen Arbeit in der Kirchengemeinde, einer Skulpturenausstellung, die sie in der Dulwich Picture Gallery besucht hatte. Und ich erzählte nichts.
    »Bestimmt gibt es in deinem Krankenhaus doch auch ein paar nette Männer, oder, Alice?«, fragte sie.
    »Ich suche keinen Mann.«
    »Vielleicht solltest du das aber, Schatz.«
    Schließlich stand sie auf und ließ ihre Hand kurz über meiner Schulter schweben, so, als hätte sie sie gern berührt, hätte aber keine Ahnung, wie das ging. »Dann sehen wir uns also in zwei Wochen um dieselbe Zeit?«
    »In Ordnung, Mum. Ich rufe dich die Tage an.«
    Sie machte den Gürtel ihres dunkelgrauen Trenchcoats zu, zog ein paar entweder hervorragend erhaltener oder brandneuer Wildlederhandschuhe an und wandte sich zum Gehen. Ich bestellte noch einen Espresso und blickte ihr hinterher, als sie federnden Schrittes und mit kerzengeradem Rücken durch die Tür entschwand, als hätte sie in ihrem Leben nie auch nur das winzigste Problem gehabt.
    Ich hatte noch ein wenig Zeit, um vor der Fahrt nach Hause etwas spazieren zu gehen. Als Kind hatte ich die Heide jeden Tag auf dem Weg zur Schule und zurück durchquert und zum tröstlich makellosen leeren Himmel aufgeschaut. Heute verschandelten mehrere Wohnsilos den früher freien Horizont, doch ohne sie hätte die Gegend noch genauso wie im neunzehnten Jahrhundert ausgesehen: prachtvolle vierstöckige Herrenhäuser und davor das offene Land, auf dem eine Reihe im Zickzack verlaufender Wege den vornehmen Familien Gelegenheit zum Promenieren bot.
    Fröstelnd lief ich durch den kalten Wind zur Morden Road. Mutter hatte unser Haus bereits vor einer halben Ewigkeit verkauft, aber als ich an die Kreuzung kam, hätte ich trotzdem beinahe kehrtgemacht. Mein Herz fing an zu rasen, doch ich zwang mich, mir die große edwardianische Doppelhaushälfte anzusehen. Sie sah vollkommen verändert aus. Doppelglasscheiben hatten die alten Schiebefenster ersetzt, und statt von einem wackeligen Lattenzaun war das Grundstück jetzt von einem eleganten Zaun aus teurem Edelstahl umgeben.
    Ich versuchte mein Glück mit der Übung, die bei den Patienten mit Phobien am besten funktioniert. Bleib so lange dicht bei dem Objekt, das deine Angst auslöst, bis dir bewusst wird, dass es dir nicht weh tun kann. Dann legt sich die Angst nämlich von ganz allein. Mein Verlangen, wegzulaufen, war fast übermächtig, doch ich zwang mich, fünf Minuten auf dem Gehweg auszuharren, während ich meinen Blick vom Giebeldach über die helle Steinfassade bis hinüber zu dem Kirschbaum wandern ließ, den meine Mutter dort gepflanzt hatte, als ich fünf Jahre alt gewesen war. Vielleicht wartete ich darauf, dass urplötzlich jemand aus dem Haus gelaufen käme, um mich durch die Tür zurück in die Vergangenheit zu zerren und dort gegen meinen Willen festzuhalten. Aber nichts geschah.
    Als ich wieder nach Hause kam, lungerte Lola auf der Couch herum und sah sich einen Schwarzweißfilm an.
    Ich warf mich neben meine Freundin, und sie stellte seufzend fest: »Sie ist einfach perfekt, nicht wahr?«, als man Katharine Hepburn, elegant in schwarzem Cocktailkleid und mit langen Handschuhen, über den Bildschirm schweben sah. »Liegt sicher an den Wangenknochen, oder was meinst du?«
    Ich verfolgte eine Viertelstunde lang, wie die Darsteller sich stritten und wieder versöhnten, ohne dass ich wirklich etwas davon mitbekam.
    »Wo warst du überhaupt?«

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