Im Visier des Todes
Herz verkrampfte. Im Takt des krächzenden, hämischen » Klick-klack « , das die Straße entlanghallte. Mutters warme, feuchte Hand hielt Leah am Gelenk zurück. »Mit wem dann?«
»Mit … niemandem.«
Der Obdachlose war hinter der nächsten Hecke verschwunden. Der Drang, ihm nachzulaufen, flaute ab, ohne ihre Beklemmung fortzuspülen. Aus welchem Mülleimer hatte er die Zeitung mit dem Nachruf auf Céline gezogen? Was hatte den Mann hierher geführt?
Klick-klack. Er hat sie alle.
Aber vielleicht schrieb sie dem Gebrabbel eines anscheinend verstörten Mannes mehr Gewicht zu, als es vernünftig gewesen wäre. Vielleicht lag das auch nur an Célines Abschiedsworten bei ihrem letzten, viel zu kurzen Wiedersehen, undeutlich unter den schneeweißen Strähnen hervorgemurmelt: » Ich glaube, ich bin da in etwas Großes reingeraten. Es macht mir Angst. «
Leah schluckte. Sie hätte nachhaken müssen, es nicht mit einem unbedachten » Das schaffst du schon « abtun dürfen.
»Ach herrje, habe ich die Herdplatte vielleicht nicht ausgeschaltet? Das hätte gerade noch gefehlt. Weißt du, wie viele Hausbrände dadurch jährlich entstehen?«
Leah befreite ihren Arm aus dem Griff der dicklichen, verschwitzten Finger und stützte ihre Mutter am Ellbogen. »Ja, Poul könnte ein Lied davon singen. Geh schon einmal ins Haus und schau nach, ob die Platte noch an ist, okay?«
»Ja, natürlich. Natürlich. Hast du schon etwas von den Pflaumen gegessen?«
»Ich brauche noch eine Minute. Dann komme ich rein und nehme mir etwas.« Sanft schob Leah ihre Mutter zum Hauseingang. Mit einem Mal fiel ihr auf, wie alt sie aussah. Der einst rabenschwarze Zopf war von silbernen Strähnen durchzogen. Der dunkle, südländisch anmutende Teint von Leberflecken gezeichnet.
»Ja«, – die Mutter nickte –, »ich verstehe schon.«
Kurz darauf schnappte die Eingangstür zu, und die Duftwolke aus Palmarosa entschwand in den Herbstnachmittag.
Leah legte den Kopf in den Nacken. Die grauen Wolken flossen vorbei, so tief, dass sie zu spüren glaubte, wie die nebligen Schwaden ihr Gesicht streiften und Stück für Stück niedersanken.
Dein letztes Blitzlicht. Er hat sie alle.
Nein, sie durfte die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen. Vielleicht würde sie den Obdachlosen noch einholen.
»Es ist so furchtbar, was Céli widerfahren ist!«
Leah zuckte zusammen. Die junge Frau mit dem kupferroten Pixie-Schnitt, die vorhin vom Hauseingang herübergeschaut hatte, tauchte vor ihr auf. »Ich kann mir kaum vorstellen, wie Sie sich gerade fühlen müssen.«
»Oh, das ist nicht schwer. Ich bekomme Wadenkrämpfe in diesen Schuhen. Was ist mit Ihnen?« Leah wandte sich ab. Der Kies knirschte unangenehm laut unter ihren Sohlen, als sie zur Gartenpforte eilte und die Straße hinunterspähte. Ein UPS -Wagen fuhr auf der Allee vorbei, die zwischen den Häusern entlangführte. Einige Meter weiter hielt er in zweiter Reihe an.
Keine Spur von dem Obdachlosen.
Ein Mann mittleren Alters sprang aus der Fahrerkabine und eilte zu ihr. In seinen Händen ein gepolsterter Umschlag. »Wohnen Sie hier?«, rief er schon von Weitem und warf einen schnellen Blick auf seinen Wagen, der die Straße blockierte.
»Ja. Leah … « Sie schaute an dem Postboten vorbei, dann blickte sie zum Haus, in dem die Mutter mit den Pflaumen auf sie wartete. Der Fremde aus dem Hinterhof kam gerade um die Ecke. »Ähm. Leah. Leah Winter.«
Der Zusteller drückte ihr die Sendung in die Hand und hielt ihr das MDE -Gerät entgegen. »Bitte unterschreiben!«
Ohne hinzusehen, krakelte sie ihre Unterschrift auf den Bildschirm. Der Postbote entzog ihr das Gerät und spurtete zu seinem Wagen zurück. Sie drehte den Umschlag und betrachtete den Absender. Fotostudio » Dream Impressions « , die Silhouette eines Raben, mit einem Kugelschreiber gezeichnet.
An Céline Winter.
Den Namen ihrer Schwester so lebendig auf dem Kuvert zu sehen, brachte das Gefühl von Ohnmacht mit sich. Ihre Nägel bohrten sich durch das Papier und die Luftpolsterfolie.
Erst als sie die Hülle bei ihren ungelenken Versuchen, sie aufzureißen, fast zerfetzt hatte, gelangte deren Inhalt in ihre Hände.
Fotos.
Die Realität wich zurück. Etwas rauschte, aber kein Wind, und es erlaubte keinem anderen Geräusch, zu ihr durchzudringen. Immer lauter rauschte es, bis es beinahe alles verschluckte. Ein kalter Schweißfilm bedeckte ihr Gesicht.
Fotos. Von Céline.
Ihre Füße versanken in einem seltsam pelzigen Gefühl,
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