Im Wald der stummen Schreie
Gestalt im Gegenlicht. Sie ging in das Büro hinein und fand das, was sie gesehen hatte, bestätigt. In diesem nur wenige Quadratmeter großen Raum, wo Schutt und Lianen auf dem Boden herumlagen, saß eine Frau vor einem Fenster, von karmesinroten Lichtstrahlen umgeben. Eine alte Frau, starr und unbeweglich wie ein vom Blitz getroffener Baum.
Jeanne trat an sie heran.
»Señora? Por favor ...«
Die Gestalt antwortete nicht. Jeanne hatte sich durch das Gegenlicht täuschen lassen: Die Frau wandte ihr nicht den Rücken zu, sie saß mit dem Gesicht zu ihr. Jeanne erklärte, dass sie französische Journalisten seien. Dass sie über die vergessenen Orte der argentinischen Diktaturen recherchierten.
Der Schatten schwieg.
Jeanne trat noch einen Schritt vor. Sie konnte das Gesicht der Frau nicht klar erkennen, bemerkte aber, dass sie keine Indiofrau war.
Noch einige Sekunden Schweigen, dann:
»Ich habe hier gearbeitet. Ich habe die Leute medizinisch versorgt. Ich habe diejenigen zusammengeflickt, die man kaputt machte.«
Die Stimme passte zu dem reglosen Körper. Es war eine versteinerte Stimme. Eine mineralische Stimme. Erstarrt durch die Jahre und die Sedimentierung. Aber die Frau hatte den Akzent von Buenos Aires behalten.
»Sie ... sie waren Ärztin?«
»Krankenschwester. Ich war die leitende Krankenschwester der Basis. Ich heiße Catarina.«
Jeanne hatte gehofft, hier Indizien zu entdecken. Doch nun hatte sie etwas Besseres gefunden. Eine Zeugin. Ein Gedächtnis. Aus einem unbekannten Grund hatte diese Frau die Basis nicht verlassen wollen.
»Hier kamen Kinder zur Welt, oder?«
Jeanne wollte ihre Chance nicht mit unnötigen Vorbemerkungen verspielen.
Die Krankenschwester antwortete, ohne zu zögern, in ihrem mechanischen Tonfall:
»Campo Alegre hatte eine Krankenstation, in der die Gefolterten behandelt wurden, um sie am Leben zu halten. Ein Saal war den hochschwangeren Frauen vorbehalten. Eine geheime Entbindungsstation.«
Catarina war vermutlich seit Jahren keinem Weißen mehr begegnet. Sie war vielleicht nie von einem Mitglied irgendeiner Kommission befragt worden. Aber sie schien vor ihrem Tod unbedingt ihre Botschaft loswerden zu wollen.
Mehr noch als eine Zeugin war Catarina eine Pythia.
Jeanne erkannte ihr Gesicht jetzt deutlicher. Ihre Augenhöhlen waren so tief eingesunken, dass ihre Augen förmlich darin verschwunden waren. Alles Fleisch hatte sich aufgelöst – verzehrt von der Zeit, dem Dschungel, dem Wahnsinn ...
»Man wartete, bis sie reif waren«, fuhr die Krankenschwester fort.
»Wie wurden sie behandelt?«
»Besser als die anderen. Die Militärs hingen an den Babys. Aber die Frauen trugen Handschellen und Tag und Nacht eine Augenbinde. Außerdem wurden sie bis zum letzten Moment befragt, das heißt gefoltert. Hunde bewachten sie. Diese Frauen waren in der Hölle. Sie schenkten ihren Kindern das Leben in der Hölle.«
»Kannten Sie ihre Namen?«
»Es gab keine Namen, nur Nummern. Sie waren einfach schwangere Frauen. Auch die meisten Babys hatten keine Namen – sie verschwanden auf der Stelle. Die Ärzte oder die Militärs erledigten den Rest. Personenstand, Geburtsregister ... Diese Kinder kamen erst dann richtig zur Welt, wenn sie adoptiert worden waren.«
»Stand den Frauen bei der Entbindung ein Arzt zur Seite?«
Die Frau lachte höhnisch.
»Doch nicht in Campo Alegre. Diese schwangeren Frauen waren den Offizieren lästig. Sie konnten sie nicht vergewaltigen. Man musste sich um sie kümmern. Sie konnten sich nicht mit ihnen amüsieren. Also hatten sie sich ein Spiel ausgedacht.«
»Ein Spiel?«
Seit dem Beginn ihres Gesprächs hatte sich Catarina nicht bewegt – ihre beiden Hände lagen auf den Knien. Ihr weißes Haar und ihre blutleeren Finger zeichneten rosa Flecken in das rote Zimmer.
Plötzlich fiel es Jeanne wie Schuppen von den Augen. Die Reglosigkeit der Krankenschwester. Ihr Hohlkreuz. Ihre dunklen Augenhöhlen. Sie war blind. Hatte man ihr die Augen ausgekratzt? Auf geheimnisvolle Weise entsprach diese Blindheit ihrer Rolle als Priesterin. In der Antike waren die Seher, die Dichter häufig blind. Homer, Teiresias ...
»Sie schlossen Wetten ab über das Geschlecht des Kindes. Kurz vor der Niederkunft brachten sie die Frau in einen eigenen Pavillon. Dort hatten sie eine landwirtschaftliche Maschine aufgebaut.«
Jeanne wollte schlucken, konnte aber nicht. Sie fühlte, dass Féraud, der hinter ihr stand, wie gelähmt war:
»Wozu eine ... landwirtschaftliche
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