Im Wald der stummen Schreie
Form besaß.
»Dort!«, sagte sie und deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle. »Sie ankern eine Stunde lang. Ich sehe mich auf der Basis um und komme dann zurück.«
»Wir können uns nicht dem Ufer nähern. Es ist nicht tief genug.«
Jeanne erinnerte sich, dass an einer Längsseite des Schubleichters ein Beiboot angeseilt war – ein behelfsmäßiges Beiboot, aus Schnur und Reifenstücken zusammengeschustert.
Weitere 200 Pesos landeten auf dem Instrumentenbrett.
»Ich nehme das Beiboot. Geben Sie mir jemanden mit, der es fährt.«
»Das kostet extra.«
»Einverstanden.«
»Und Sie müssen den anderen Passagieren einen ausgeben. Für die Verzögerung.«
»Wo kriegen wir den Alkohol her?«
Mit dem Kinn deutete der Kapitän auf das Pfahldorf, das halb im Fluss stand.
»Gebongt«, sagte Jeanne und wischte sich die Stirn ab. »Machen Sie das Manöver.«
79
Die Sonne war jetzt so rot und klar wie eine durchgeschnittene Frucht. Das Vorankergehen hatte zwei Stunden gedauert. Männer waren im Beiboot losgefahren, um am Getränkekiosk des Dorfes Bierflaschen zu kaufen. Lachend hatte man auf Jeannes Gesundheit angestoßen. Schließlich hatte sie von Bord gehen können. Féraud bestand darauf mitzukommen. Es war ihr lieber so. Sie wollte nicht mehr von seiner Seite weichen.
Langsam näherten sie sich an Bord des Schlauchbootes dem Anlegesteg. Der Fluss glich hier einer Deponie von Pflanzenresten. Binsenstücke, Fetzen von Seerosen, Blätterinseln. Die Abfälle des Waldes trieben wie die Gesichter und die Bäuche von Kadavern in der Strömung.
Sie kletterten auf den Damm. Jeanne sagte zu dem Fahrer des Beibootes: »Eine Stunde!« Sie durchquerten das Pfahldorf – ein recht großes Wort für zehn Hütten auf Stelzen, die im Schlamm steckten. Bretter, Balken, Leichtbausteine, Plastikplanen – alles schien von einem Stamm von Bibermenschen zusammengebaut worden zu sein. Sie waren da. Fettiges Haar und verfaulte Zähne. Die meisten hatten mit Asche beschmierte Gesichter. Andere hatten rote Flecken auf ihren Wangen – Jeanne dachte an das Urucum. Immer näher ... Diese Leute wirkten weder verängstigt noch verstört. Ihre Abgeschiedenheit war wie ein großer schützender Mantel, der sie einhüllte.
Ein Pfad durch dichte Vegetation, auf dem sie nur mühsam vorankamen, führte zu der Militärbasis. Sie gingen zehn Minuten. Die Strahlen der Abendsonne fielen durch das Kronendach wie durch Kirchenfenster. Ein blaugrün schillernder Lichtregen ... Lupeneffekte, die die letzten Hitzewellen verstärkten ...
Schließlich tauchte das Gebäude auf.
Jeanne dachte an das Bagno, das historische Straflager von Cayenne. Jeder hat seine eigenen Assoziationen. Blinde Mauern voller Feuchtigkeitsflecken. Schießscharten, aus denen Blätter wucherten. Wurzeln und Lianen hatten sich in Betonspalten eingenistet. Äste hatten die Dächer zum Bersten gebracht. Der Wald hatte das Gefängnis angegriffen und erobert. Jetzt wusste man nicht mehr, wer wen angriff. Ein gequälter Liebeskuss. Steine und Pflanzen, die sich in fiebriger Erregung umklammerten. Jeanne dachte an die Tempel von Angkor. Aber die Gottheiten, die ehedem hier verehrt wurden, waren unheilbringende Mächte. Folter. Hinrichtungen. Spurloses Verschwinden ...
Sie gelangten mühelos ins Innere. Lianen spreizten Türen, sprengten wie riesige Brecheisen Schlösser auf. Ein großer quadratischer Innenhof voller schillernder Pflanzen erwartete sie. Alles war in ein klares, bernsteinfarbenes Licht getaucht. Ein wahres exotisches Treibhaus mit dem rechteckigen Ausschnitt des purpurfarbenen Himmels zwischen den Gebäuden.
Unter der offenen Galerie gingen sie nach rechts. Pfeiler, Kerker, ein Speisesaal. Das Eisen wich jetzt dem Holz. Die Räume der Verwaltung. Gab es hier Archive? Eine absurde Idee, wenn man an die Jahre dachte, die seither vergangen waren. Und an den Charakter dieses Ortes. Henker führten keine Protokolle. Und falls es doch Aufzeichnungen gegeben hatte, dann hatte der Wald sie innerhalb weniger Tage zerfressen, aufgelöst und verschlungen ...
Am Ende der Galerie stieß sie auf einen Gang. Am Ende des Gangs lagen Büros. Der Boden war besprenkelt mit Laub. Dumpf hallten ihre Schritte im roten Dämmerlicht wider. Eine Flucht von Zimmern mit Fenstern, umkränzt von Blattwerk. Schränke, Stühle, Möbel, die wie durch ein Wunder noch aufrecht standen ...
Jeanne machte kehrt.
In einem der Räume fiel ihr etwas auf. Ein unerwartetes Detail. Eine kauernde
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