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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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und sie streichelte, hatte sie nicht geträumt.
    Das Wolfskind hatte sie aufgesucht, nachdem es Beto geopfert hatte.
    Noch immer hielt sie den Spiegel in der einen Hand, während sie mit der anderen Hand ihre Haare an den Schädel drückte. Sie bemerkte, dass der Abdruck an ihrer Schläfe verkehrt herum angebracht war. Zuerst die Handkante auf der Stirn, dann die nach unten zeigenden Fingerabdrücke. Jeanne sah die Szene in der Finsternis noch einmal vor sich. Joachim, dessen Atem sie auf ihrem Gesicht spürte. Seine blutverschmierte Hand – die Hand eines mordenden Kannibalen – auf ihrer Stirn.
    Aber wieso verkehrt herum ?
    Die Antwort ergab sich von selbst.
    Weil sein Anfall noch nicht vorüber war.
    Daher waren seine Handgelenke verdreht ...

 
    78
    In der griechischen Antike standen die Flüsse der Unterwelt mit der Welt an der Erdoberfläche in Verbindung. Der Wasserfall des Styx stürzte in eine schmale Schlucht in Arkadien im Norden der Peloponnes. Der Acheron floss durch Epirus und mündete ins Ionische Meer. Ein anderer Fluss des gleichen Namens durchströmte Lakonien und verschwand in der Nähe des Kap Tenaro, wo sich der Sage nach ein Zugang zur Unterwelt befinden sollte.
    An Bord des Schleppkahns fragte sich Jeanne, zu welcher Unterwelt der Rio Bermejo führte. Dem Wald der Manen? Dem Volk des Thanatos? Es sei denn, dass ihre eigenen Ermittlungen ein Teil der Unterwelt waren. Wer immer sich darauf einließ, blieb ihr Gefangener. Erlag einer Spirale der Grausamkeit und Gewalt, aus der es kein Entrinnen gab.
    Jeanne suchte in sich etwas wie Mitleid für Beto. Ein Mann, der das Pech gehabt hatte, ihren Weg zu kreuzen. Aber sie empfand nichts. Sie hatten die Leiche einfach zurückgelassen. Sie waren geflohen. Jetzt hoffte sie, dass sie sich nicht geirrt hatte. Dass niemand eine Verbindung zwischen ihrem Ausflug und dem Chauffeur herstellen würde. Oder dass ihnen wenigstens die Zeit blieb, im Wald und seinen Sümpfen unterzutauchen, bevor die Polizei ihnen auf die Spur kam.
    Sie dachte auch an Marion Cantelau, Nelly Barjac, Francesca Tercia, François Taine, Eduardo Manzarena, Jorge de Almeida ... Andere Pechvögel, die sich – und sei es nur von fern – dem Volk der embalsados genähert hatten. Ob nun in Wirklichkeit oder nur in der Phantasie. Sie konnte diese Toten nicht betrauern. Jeanne konnte jetzt nur noch eines für sie tun: die Reise beenden, Joachim aufspüren und ihn auf die eine oder andere Art aus dem Verkehr ziehen. Sie hörte die Stimme von Pavois: »Das ist Ihr Karma.«
    Am Bug sitzend, drehte sich Jeanne um und betrachtete das Schiff. Der Anblick lohnte sich. Ein Lastkahn aus verrostetem, zusammengeflicktem Schrott, sechzig Meter lang, auf dem mehrere Hundert Indios, etliche Stück Vieh, Säcke mit Lebensmitteln, Benzinkanister, Hunde, Feuerholz, Seile, Wäsche zum Trocknen, Matekräuter, Gaskocher, Kochtöpfe und anderes zusammengepfercht waren. Ein schwimmendes, geräuschvolles, dicht zusammengedrängtes Dorf, das man zu Wasser gelassen hatte, einfach so, um zu sehen, was passierte ...
    Der Kahn fuhr gemächlich; langsam schob sich das geschäftige Treiben und das Gewirr der Stimmen unter den Wipfeln der Bäume, die sich hoch über dem Fluss einander zuneigten, durch den tropischen Dschungel, der nichts mit den Palmenmeeren gemein hatte. Jeanne kannte das Phänomen. Die feuchte Umgebung der Flüsse brachte stets diesen ganz besonderen Vegetationstyp hervor. Dicht. Üppig. Undurchdringlich. Die Argentinier nannten diese Waldform selva en galería , Galeriewald.
    Jeanne betrachtete die grünen und schwarzen Mauern, die an ihr vorbeizogen. Das Gewirr der Lianen. Das dichte Blattwerk. Blumengirlanden, die an Zweigen hingen. Und vor allem das gestaffelte, eng verzahnte Spalier der Bäume – Palmen, aber auch Johannisbrotbäume, Mangroven, Bananenbäume ... El Impenetrable war zugleich der Unzählbare ...
    Sie senkte die Augen. Anders als es sein Name andeutete, war der Fluss nicht rot. Er hatte die graugrüne Farbe von Bronze, manchmal schimmerte er auch gelborange wie Kupfer, dann wieder bleigrau ... Metallisches Wasser, das die Eingeweide der Erde gespült zu haben schien.
    Die Stunden vergingen. In dem Maße, wie der Schubleichter in den Wald vordrang, legte sich ein tiefes Schweigen über das Schiff. Die Geräusche des Dschungels gewannen die Oberhand. Das Rauschen von Blättern, das Pfeifen von Vögeln, das Sirren von Zikaden. Dann verstummten die Geräusche plötzlich – ohne

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