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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Maschine?«
    »Wegen der Vibration. Sie banden die Frau daran fest und ließen den Motor an. Dadurch lösten sie den Geburtsvorgang aus. Vor der Maschine hatten sie einen Spieltisch aufgestellt, um zu wetten. Man hörte die Schreie der Frauen, das Gelächter der Offiziere, das Dröhnen des Motors, das alles übertönte. Der reine Albtraum.«
    »Was machten sie mit dem Neugeborenen?«
    »Ein Arzt kümmerte sich um es.«
    »Und ... die Frau?«
    »Umgebracht, an Ort und Stelle. Der Knall der Waffe war das erste Geräusch, das das Baby hörte.«
    Jeanne sammelte ihre Gedanken. Noch ein oder zwei Fragen, und die Frau würde schweigen. Sie würde in ihre Welt der Geister zurückkehren.
    »Waren Sie 1972 auch schon hier?«
    »Ja.«
    »Erinnern Sie sich an eine Niederkunft zu dieser Zeit? Vor dem Beginn der Diktatur?«
    »Die erste dieser Art. Die Soldaten haben mit dieser Frau ihre Maschine eingeweiht.«
    »Kannten Sie ihren Namen?«
    »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass die Gefangenen keine Namen hatten.«
    »Und das Kind?«
    » Joachim . Es wurde von einem Soldaten der Kaserne adoptiert. García, ein Taugenichts, ein Säufer.«
    »Wissen Sie, was dann mit dieser Familie passiert ist?«
    »García hat 1977 seine Frau umgebracht und dann Selbstmord begangen. Die Junge hat das Weite gesucht. Später wurde gemunkelt, er habe im Dschungel überlebt. Er habe sich in der Wildnis durchgeschlagen. Aber die Wildnis, das war Campo Alegre.«
    »Einige Jahre später hat man das Kind dann gefunden. Erinnern Sie sich daran?«
    »Ich erinnere mich an Alfonso Palin. Er kam, um den Jungen zu holen. Das war 1982. Aber Joachim war mit einem Jesuiten aus dem Dorf fortgegangen.«
    »Wussten Sie, dass es sein leiblicher Sohn war?«
    »Es gab Gerüchte. Es hieß, Palin habe in Buenos Aires mit der Mutter des Jungen geschlafen. Er wollte das Kind zu sich holen. Pellegrini, der Kommandant der Militärbasis, hatte eine Mordsangst. Palin hatte schon gezeigt, wozu er in der Lage war.«
    »Wie das?«
    Catarina nickte mit dem Kopf. Ein Rasiermesser schien die untere Gesichtshälfte aufzuschneiden. Eine Art Lächeln.
    »Als er erfuhr, was man seiner Geliebten angetan hatte, hat er die Soldaten aufgesucht und sie umgebracht. Jeder bekam eine Kugel ins Genick.«
    »Und Pellegrini sagte nichts?«
    »Pellegrini hatte keine Wahl: Er musste den Jungen finden und ihn Palin übergeben. Und dann konnte er nur beten, dass der Admiral nie mehr zurückkommen würde.«
    Jeanne wusste, wie die Geschichte weitergegangen war.
    Sie gab Féraud, der im Dämmerlicht kaum noch zu erkennen war, ein Zeichen. Es war Zeit, aufzubrechen. Zeit, zum Schlauchboot zurückzukehren, bevor es stockfinster wurde.
    Als sie schon in der Tür stand, drehte sich Jeanne noch einmal um und fragte:
    »Was ist mit Ihren Augen passiert?«
    Catarina antwortete nicht gleich. Ihre Hände verkrampften sich auf ihren Knien.
    »Eine Bestrafung.«
    »Die Soldaten?«
    »Nein, nicht die Soldaten, ich selbst.«
    Sie hob die Fäuste und legte sie auf die leeren Höhlen.
    »Eines Tages hat es mir gereicht, ich wollte nichts mehr sehen. Ich ging in die Küche. Ich nahm einen Löffel, desinfizierte ihn über einer Flamme und habe ... operiert. Seither lebe ich unter den Indios.«
    Jeanne verabschiedete sich mit leiser Stimme von der Frau und schob Féraud in den Gang hinaus. Er stolperte über eine Wurzel und wäre beinahe hingefallen.
    »Warten Sie.«
    Jeanne blieb in der Tür stehen.
    »Wohin wollen Sie?«, fragte die Krankenschwester.
    »In den Wald der Manen.«
    Kurzes Schweigen. Mit ihrer hohlen, distanzierten, unbeteiligten Stimme sagte Catarina:
    »Dann werden Sie sie sehen.«
    »Wen?«
    »Die Mütter. Die Mütter der Babys.«
    »Sie haben uns doch gesagt, dass die Offiziere sie gleich nach der Entbindung umbrachten.«
    »Sie sind in dieser Welt gestorben. Nicht im Wald der Manen. Sie streifen über die in der Lagune treibenden Inseln. Es sind menschenfressende Geister. Sie rächen sich. Wenn Sie sie sehen, grüßen Sie sie von mir. Sagen Sie ihnen, dass ich sie nicht vergessen habe.«

 
    80
    Joachim, das Kind des Bösen.
    Der Mechanismus des Vater s, auf die Spitze getrieben. Nicht nur seine ganze Erziehung hatte auf Gewalt beruht. Auch seine Geburt hatte im Zeichen der Gewalt gestanden. Die Feen, die sich über seine Wiege beugten, waren sadistische, perverse Soldaten. Dann hatte es die Garcías gegeben, das gewalttätige Säuferpaar. Anschließend der archaische Stamm blutrünstiger

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