Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
Vom Netzwerk:
erkennbaren Grund. Man hörte nur das dumpfe Rauschen des eisernen Rumpfes im Wasser. Es wirkte wie der körperliche Ausdruck von Raum und Zeit.
    Man bereitete das Mittagessen zu. Rinderviertel wurden auf einem verrosteten Fass gegrillt. Die Indios luden Jeanne und Féraud zu sich unter die aufgespannten Planen ein, die Schutz vor der Sonne boten. Jeanne nahm sich ein rosagraues Stück Fleisch. Der Psychiater knabberte einige Stücke rohes Gemüse.
    Als die Passagiere später in schläfrige Lethargie versanken, hallten plötzlich Schreie wider. Es war der Kapitän, der den Kopf aus dem Ruderhaus gesteckt hatte und brüllte. Ein etwa fünfzigjähriger Indio, dessen Schädel und Gesicht völlig unbehaart war. Er hatte weder Wimpern noch Brauen. Als Jeanne an Bord gegangen war, hatte er ihren Blick aufgefangen. Darauf hatte er ihr erklärt, dass er sich rasierte und epilierte, damit sich keine Insekten an den Haaren einnisteten ...
    Jetzt schrie er junge Frauen an, die Erschrecken heuchelten, während sie gleichzeitig laut auflachten.
    Féraud, der auf Leinensäcken hockte, fragte, ohne den Kopf zu heben:
    »Was sagt er?«
    »Wenn ihm die Frauen weiterhin auf die Nerven gingen, würde er sie alle vergewaltigen. Er fragt auch, wo er sich rasieren müsse, um sich von solchen Plagegeistern zu befreien.«
    Féraud erwiderte nichts. Der Psychiater war unempfänglich für den Humor der Indios. Er kauerte sich zwischen dem Gepäck zusammen; offenbar stand er noch immer unter Schock.
    Ein weiteres Mal betrachtete Jeanne das undurchdringliche Bollwerk des Dschungels. Sie erinnerte sich an die Worte Betos. Der Bermejo floss um den Wald und seine Sümpfe herum, um nach mehreren hundert Kilometern die Grenze nach Paraguay zu passieren. Zurück in die Zivilisation.
    Niemand machte in diesem »ungeborenen Wald« Halt, niemand außer Jeanne und Féraud. Wie würden sie den Kapitän dazu bringen, unterwegs anzuhalten? Und wie würden sie in diesen Dschungel eindringen?
    Bei diesem Gedanken blickte Jeanne auf das Display ihres Handys. Kein Netz mehr. Sie hatten also die Linie überschritten ... Mit zugeschnürter Kehle verstaute sie das Telefon in ihrer Tasche. Gleichzeitig fiel ihr zwischen den vorbeiziehenden Bäumen etwas Ungewöhnliches auf. Ein grauer Winkel, der mit den gleichförmigen Farben der Lianen und Blätter verschmolz, dessen horizontale Linie jedoch zu gerade, zu regelmäßig war, als dass er pflanzlichen Ursprungs hätte sein können.
    Jeanne stand auf und kniff die Augen zusammen. Eingerahmt vom Flechtwerk des Dschungels, tauchte ein Gebäude aus grauem Beton auf. Ein Block, der sich in der Natur aufzulösen schien. Eine Ruine der Zivilisation, die in ihren ursprünglichen Zustand zurückkehrte – eine rohe mineralische Masse ...
    Jeanne begriff. Geduckt unter den Planen schlängelte sie sich zwischen Indios, Ziegen und Schüsseln hindurch und gelangte zu dem verrosteten Ruderhaus, in dessen Bruthitze der Kapitän schwitzte.
    »Was ist das da drüben?«
    Der Kapitän, die Hand am Ruder, wandte nicht einmal den Kopf um.
    »Das Gebäude dort«, wiederholte Jeanne. »Was ist das?«
    »Campo Alegre. Das Konzentrationslager.«
    Jeanne hatte richtig geraten. Der Schauplatz der Urszene. Die Wiege Joachims ... Sie stellte es sich bereits als einen sakralen Ort, einen mythischen Raum vor. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es dort etwas zu entdecken gab.
    »Wie viel wollen Sie, um dort anzuhalten?«
    »Unmöglich. Keine Anlegestelle.«
    Jeanne durchwühlte ihre Jackentasche und fand den Umschlag mit dem Bargeld, das sie in Formosa abgehoben hatte. Ihre gesamten Ersparnisse. Hastig zählte sie die Scheine und zog 200 Pesos aus dem Bündel heraus. Sie legte das Geld auf das Instrumentenbrett – drei gesprungene Zifferblätter, mit Klebeband reparierte Schalthebel.
    »Glauben Sie, dass Sie allein an Bord sind?«
    Der Kapitän trug ein T-Shirt mit dem Bild von Christoph Kolumbus. Über dem Kopf stand »WANTED«. Darunter die Höhe der Belohnung: 5 000 Dollar. Das gab eine gewisse Größenordnung vor.
    »Wie viel?«, sagte Jeanne ein weiteres Mal, in der Hitze des Ruderhauses schier erstickend.
    Der Glatzkopf antwortete nicht. Das Boot fuhr noch immer und ließ die graue Festung hinter sich. Jeanne sah durch die schmutzige Luke, wie sie sich mehr und mehr entfernte.
    »WIE VIEL?«
    Sie entdeckte halb im Wasser versunkene Hütten. Einen durchhängenden Anlegesteg, der in den Fluss hineinragte und eine halb menschliche, halb pflanzliche

Weitere Kostenlose Bücher