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Im Wald der stummen Schreie

Im Wald der stummen Schreie

Titel: Im Wald der stummen Schreie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grange
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Kannibalen. Später die Brüllaffen. Schließlich Alfonso Palin ... Die traumatischen Kindheitserlebnisse glichen übereinandergeschichteten Metallfolien, die zusammengepresst wurden, sodass eine neue Legierung entstand.
    Der Mechanismus der Väter.
    Jeanne dachte an die landwirtschaftliche Maschine, an die Schreie der niederkommenden Frauen, an das Rucken des Motors, ein Symbol für das fatale Räderwerk, aus dem das Wolfskind hervorgegangen war ...
    Seit mehreren Stunden glitt der verrostete Schubleichter in der Finsternis dahin, während Schwärme von Fledermäusen dicht über den Köpfen mit ihren Flügeln schlugen. Die Kälte war zurück. Alle Passagiere hatten sich um Kohlenbecken versammelt. Sie sprachen mit gedämpften Stimmen.
    Jeanne und Féraud schlotterten. Man hatte Decken an sie ausgeteilt. Man hatte ihnen zu essen gegeben. Im flackernden Schein des Feuers hatten sie nicht gesehen, was sie aßen. Zu erschöpft, um Geschmack oder Widerwillen zu empfinden ...
    Sich in die Decke kuschelnd, spähte Jeanne in die Finsternis, die sie umgab. Sie sah nichts. Die Spaliere des Waldes an beiden Ufern bildeten eine zweite, noch schwärzere Nacht, die in die erste eingelassen war und der Finsternis eine besondere Tiefe verlieh.
    Die Flussufer mit ihren Düften und Geräuschen schienen nähergerückt zu sein. Jetzt sangen die Indios für den Mond. Vielleicht waren die »Ungeborenen« schon da und spähten den vorbeischippernden Kahn aus? Und Joachim? Wie kehrte er mit seinem Vater zu seinem Volk zurück? Hatten sie ein eigenes Boot?
    Plötzlich sah sie Leuchtkäfer, die im Blattwerk umherwirbelten. Es verwunderte sie, dass sie diese Tiere so klar erkennen konnte. Doch nein, das waren keine Leuchtkäfer. Diese Lichter bewegten sich nicht ... Gleich darauf war ein Brummen zu hören. Ein Geräusch, das sie unter tausend anderen erkannt hätte. Ein elektrischer Generator, der auf Hochtouren lief.
    Sie stand auf und ging ein weiteres Mal ins Ruderhaus. Der Kapitän turtelte mit zwei jungen Indiofrauen auf seinen Knien herum.
    »Die Lichter dort, was ist das?«
    » Tranquila, mujercita ... Wollen Sie jedes Mal hochschrecken, wenn wir an einer Hütte vorbeikommen?«
    »Was für eine Hütte?«
    »Eine Estancia.«
    »Es gibt eine Estancia im Dschungel?«
    »Wir sind in Argentinien. Es gibt immer irgendwo eine Estancia.«
    »Wem gehört sie?«
    »Weiß nicht. Einem schwerreichen Mann. Einem Spanier.«
    Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Dusche. Essen. Versorgung. Träger ... Diese Estancia wäre die ideale Zwischenstation, bevor sie ins Unbekannte eintauchten. Bestimmt würde der Eigentümer oder Verwalter des Landgutes mit sich reden lassen ...
    »Können wir haltmachen?«
    »Sie sind wirklich stur. Dieses Schiff ist kein Bus. Kein Stopp mehr bis Paraguay.«
    »Wir haben uns doch schon mal geeinigt.«
    Der Kapitän seufzte. Von seinem T-Shirt warf Christoph Kolumbus Jeanne einen bösen Blick zu. Die beiden Mädchen kicherten. Jeanne kramte in ihren Taschen und legte eine weitere Handvoll Geldscheine auf die Instrumententafel.
    »Behalten Sie Ihr Geld. Ich kann nicht mehr anhalten. Die Strömung ist zu stark. Das Manöver würde zu viel Treibstoff verbrauchen.«
    »Und wenn wir das Beiboot benutzen?«
    Der Mann warf ihr vernichtende Blicke zu.
    »Die Estancia hat mit Sicherheit einen Anlegesteg«, fuhr sie fort. »Sobald wir daran vorbeikommen, sagen Sie uns Bescheid. Wir springen mit dem Typen von vorhin ins Schlauchboot. Er setzt uns ab. Er holt Sie wieder ein. Sie brauchen nicht anzuhalten.«
    Der Kapitän streckte die Hand aus und steckte das Geld ein.
    »Ich gebe Ihnen ein Zeichen, sobald wir an dem Damm vorbeikommen.«
    »Wie lange wird das dauern?«
    Er warf einen Blick durch das Bullauge, als könne er in der Dunkelheit sehen.
    »Zehn Minuten.«
    Alles ging sehr schnell. Sie sprangen ins Beiboot, der Motor surrte neben dem fahrenden Kahn. Sie fingen ihr Gepäck auf, das man ihnen vom Deck zuwarf. In weniger als fünf Minuten erreichte das Schlauchboot die halb überfluteten Planken, die als Anlegestelle dienten. Sie sprangen auf wurmzerfressenes Holz. Wieder strauchelte Féraud – beinahe wäre er ins Wasser gefallen. Als Abschiedsgruß bekamen sie einen eiskalten Wasserstrahl in den Rücken. Das Beiboot war schon wieder losgefahren. Die Gischtstreifen des Kielwassers zogen wie zwei Furchen hinter dem Boot her und verloren sich in der Dunkelheit.
    Jeanne entdeckte die Piste, die zur Estancia führte. Ihr wurde die

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