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Im Westen Nichts Neues

Im Westen Nichts Neues

Titel: Im Westen Nichts Neues Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
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schluckt es. Ich hole neues. Dann knöpfe ich seinen Rock auf, um ihn zu verbinden, wenn es geht. Ich muß es auf jeden Fall tun, damit die drüben, wenn ich gefangen werden sollte, sehen, daß ich ihm helfen wollte, und mich nicht l erschießen. Er versucht sich zu wehren, doch die Hand ist zu schlaff dazu. Das Hemd ist verklebt und läßt sich nicht beiseite schieben, es ist hinten geknöpft. So bleibt nichts übrig, als es aufzuschneiden.
    Ich suche das Messer und finde es wieder. Aber als ich anfange, das Hemd zu zerschneiden, öffnen sich die Augen noch einmal, und wieder ist das Schreien darin und der wahnsinnige Ausdruck, so daß ich sie zuhalten, zudrücken muß und flüstern: »Ich will dir ja helfen, Kamerad, camarade, camarade, camarade –«, eindringlich das Wort, damit er es versteht.
    Drei Stiche sind es. Meine Verbandspäckchen bedecken sie, das Blut läuft darunter weg, ich drücke sie fester auf, da stöhnt er.
    Es ist alles, was ich tun kann. Wir müssen jetzt warten, warten.
    *
    Diese Stunden. – Das Röcheln setzt wieder ein – wie langsam stirbt doch ein Mensch! Denn das weiß ich: er ist nicht zu retten. Ich habe zwar versucht, es mir auszureden, aber mittags ist dieser Vorwand vor seinem Stöhnen zerschmolzen, zerschossen. Wenn ich nur meinen Revolver nicht beim Kriechen verloren hätte, ich würde ihn erschießen. Erstechen kann ich ihn nicht.
    Mittags dämmere ich an der Grenze des Denkens dahin. Hunger zerwühlt mich, ich muß fast weinen darüber, essen zu wollen, aber ich kann nicht dagegen ankämpfen. Mehrere Male hole ich dem Sterbenden Wasser und trinke auch selbst davon.
    Es ist der erste Mensch, den ich mit meinen Händen getötet habe, den ich genau sehen kann, dessen Sterben mein Werk ist. Kat und Kropp und Müller haben auch schon gesehen, wenn sie jemand getroffen haben, vielen geht es so, im Nahkampf ja oft – Aber jeder Atemzug legt mein Herz bloß. Dieser Sterbende hat die Stunden für sich, er hat ein unsichtbares Messer, mit dem er mich ersticht: die Zeit und meine Gedanken.
    Ich würde viel darum geben, wenn er am Leben bliebe. Es ist schwer, dazuliegen und ihn sehen und hören zu müssen.
    Nachmittags um drei Uhr ist er tot.
    Ich atme auf. Doch nur für kurze Zeit. Das Schweigen erscheint mir bald noch schwerer zu ertragen als das Stöhnen. Ich wollte, das Röcheln wäre wieder da, stoßweise, heiser, einmal pfeifend leise und dann wieder heiser und laut.
    Es ist sinnlos, was ich tue. Aber ich muß Beschäftigung haben. So lege ich den Toten noch einmal zurecht, damit er bequemer liegt, obschon er nichts mehr fühlt. Ich schließe ihm die Augen. Sie sind braun, das Haar ist schwarz, an den Seiten etwas lockig.
    Der Mund ist voll und weich unter dem Schnurrbart, die Nase ist ein wenig gebogen, die Haut bräunlich, sie sieht jetzt nicht mehr so fahl aus wie vorhin, als er noch lebte. Einen Augenblick scheint das Gesicht sogar beinahe gesund zu sein – dann verfällt es rasch zu einem der fremden Totenantlitze, die ich oft gesehen habe und die sich alle gleichen.
    Seine Frau denkt sicher jetzt an ihn; sie weiß nicht, was geschehen ist. Er sieht aus, als wenn er ihr oft geschrieben hätte; – sie wird auch noch Post von ihm bekommen – morgen, in einer Woche –, vielleicht einen verirrten Brief noch in einem Monat. Sie wird ihn lesen, und er wird darin zu ihr sprechen.
    Mein Zustand wird immer schlimmer, ich kann meine Gedanken nicht mehr halten. Wie mag die Frau aussehen? Wie die Dunkle, Schmale jenseits des Kanals? Gehört sie mir nicht? Vielleicht gehört sie mir jetzt hierdurch! Säße Kantorek doch hier neben mir! Wenn meine Mutter mich so sähe -. Der Tote hätte sicher noch dreißig Jahre leben können, wenn ich mir den Rückweg schärfer eingeprägt hätte. Wenn er zwei Meter weiter nach links gelaufen wäre, läge er jetzt drüben im Graben und schriebe einen neuen Brief an seine Frau.
    Doch so komme ich nicht weiter; denn das ist das Schicksal von uns allen; hätte Kemmerich sein Bein zehn Zentimeter weiter rechts gehalten, hätte Haie sich fünf Zentimeter weiter vorgebeugt –
    *
    Das Schweigen dehnt sich. Ich spreche und muß sprechen. So rede ich ihn an und sage es ihm. »Kamerad, ich wollte dich nicht töten. Sprängst du noch einmal hier hinein, ich täte es nicht, wenn auch du vernünftig wärest. Aber du warst mir vorher nur ein Gedanke, eine Kombination, die in meinem Gehirn lebte und einen Entschluß hervorrief – diese Kombination habe ich

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