Im Zeichen der Angst Roman
damit Melissa ihr nicht mehr böse war. Das war doch schon mal ein Erziehungserfolg.
Ich wünschte den beiden viel Spaß und versprach, pünktlich um halb sieben zu Hause zu sein. Melissa wohnte nur 200 Meter von uns entfernt auf derselben Straßenseite. Manchmal holte ich Josey ab. Manchmal begleitete Melissas Vater meine Tochter zu uns nach Hause, manchmal das Kindermädchen. Doch manchmal ging sie auch allein. Wir wohnten in einer belebten Straße in Eppendorf, und es gab keinen Anlass anzunehmen, dass die Gegend nicht sicher war. Und es gab auch keinen Anlass anzunehmen, dass meine zweite Tochter entführt würde. Das widerspräche dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit. Jedenfalls sagte ich mir das immer wieder. Mehrmals am Tag sogar, wenn ich ehrlich war.
Denn natürlich hatte ich Angst. Die Angst lauerte in mir und wartete nur auf einen unbedachten Augenblick. Sie lauerte wie ein ausgehungerter Polarbär nach dem Winterschlaf. Wenn ich sie nicht ständig kontrollierte, fraß sie sich durch meine Organe, durch meine Nerven, durch meine Seele. Und anschließend spuckte sie mich aus, und von mir blieb nichts zurück als eine zitternde Hülle, die am liebsten die Schlafzimmerjalousien herunterließ und sich im Dämmerlicht unter der Bettdecke verkroch.
Immer bohrte diese Angst in mir. In jeder Sekunde, in jeder Minute. Tag und Nacht. Sie verließ mich nicht. Die Angst, auch dieses Kind zu verlieren, wie es mir offenbar bislang beschieden war, jeden zu verlieren, den ich liebte und der mich liebte. Als Erstes verlor ich meine Mutter, dann meine Tochter, schließlich meinen Vater und dann Kai. Bis nur noch Josey und ich übrig waren.
Als ich aus der Haft entlassen wurde, ging ich noch am selben Tag auf den Friedhof. Ich schwor an Johannas Grab, dass ich das ungeborene Kind in mir behüten und beschützen würde. In jedem Moment meines Lebens bis zu meinem letzten Atemzug. Dieses Kind, dieses großartige, vollkommene Geschenk des Lebens an mich, würde ich nicht verlieren. Durch nichts und niemanden. Dieses Kind würde leben, eigene Kinder bekommen und später Enkel und Urenkel.
2
Ich hatte mit einem silberfarbenen Mercedes gerechnet, wie er deutschlandweit von der Polizei gefahren wurde. Stattdessen aber fuhren wir in einem Zivilfahrzeug, einem neuen Audi A6 mit Ledersitzen und Automatikgetriebe.
Ich saß hinter meinen neuen Bekannten auf dem Rücksitz. Während der Fahrt ins Landeskriminalamt schwiegen wir zunächst.
Auf der sich lang hinziehenden Eppendorfer Landstraße staute sich der Verkehr, und die beiden stellten die Sirene aufs Dach.
Als wir in die Alsterdorfer Straße einbogen, wurde es ruhiger. Die Sirene blieb dennoch, wo sie war, und jaulte durch die Straße.
»Silberstein war nicht ihr richtiger Name«, meinte Groß und sah mich im Rückspiegel an.
»Das sagten Sie bereits«, erwiderte ich.
»Wir haben sie erst vor ein paar Stunden gefunden. Wir stehen mit den Ermittlungen noch ganz am Anfang. Die Frau hatte einen Führerschein auf den Namen Silberstein dabei. Wohnhaft in Berlin. Sonst fanden wir keine Papiere. Sie ist aber dort nicht registriert. Deshalb gehen wir davon aus, dass es nicht der richtige Name ist. Ihre Fingerabdrücke haben wir durch den Computer laufen lassen. Ohne Ergebnis.«
»Das heißt doch lediglich, dass die Frau nie kriminell war.«
»Das heißt, dass wir sie nie erwischt haben«, korrigierte mich Groß.
»Woher wissen Sie, dass Sie Deutsche ist?«
»Wir wissen es nicht. Sie sind wirklich der einzige Anhaltspunkt, den wir bislang haben.«
Ich schwieg, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Ist heute nicht einfach, ein Kind allein großzuziehen und einen guten Job zu machen«, sagte Groß in das Schweigen.
Ich erwiderte nichts.
»Alle Achtung«, sagte Groß. »Hut ab.«
»Es gibt Millionen alleinerziehende Frauen«, sagte ich. »Was ist daran so bemerkenswert?«
»Ist es nicht schwer für Sie?«, fragte Groß und lächelte mir im Rückspiegel aufmunternd zu.
»Was?«
»Nun schon zum dritten Mal in die Pathologie zu fahren?«
»Hören Sie auf«, sagte ich.
»Womit?«
»Mit dieser abgehalfterten Nummer vom guten und vom bösen Cop. Ihre Rolle ist ja noch schlimmer als die Ihres Kollegen.«
»Sind Sie schon mal von der Polizei vernommen worden?«
Ich schaute einen Moment überrascht. Sie wussten es doch ganz genau. Sie kannten meinen Fall. Das war mir längst klar.
Das letzte Mal hatte mich die Polizei vernommen, als ich die Leiche meines Mannes
Weitere Kostenlose Bücher