Im Zeichen der Angst Roman
Unsere Schritte hallten in einem seltsam nervösen Rhythmus auf den braunen Fliesen wider. Wenn Mankiewisc zwei Schritte
machte, machte Groß drei und dann wieder zwei, und ich versuchte, mich diesem Durcheinander anzupassen und alles andere auszublenden. Es war jedes Mal ein Kraftakt für mich, diesen Korridor entlangzugehen. Ich hatte hier meine Tochter und später Kai identifiziert, und in den letzten Jahren hatte mich der eine oder andere Todesfall als Reporterin hergeführt. Seit Kais Tod hatte ich jedoch auf der anderen Seite gestanden und selbst die Fragen gestellt. An diesem sonnigen Oktobertag allerdings war ich hier, um wieder einmal welche zu beantworten, und das verunsicherte mich. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete und wie ich mich verhalten sollte. Ich wusste nur eines: Die beiden hatten eine weibliche Leiche, von der sie annahmen, dass ich sie kannte. Wenn das stimmte, dann wollte ich meine Reaktion unter Kontrolle haben.
Groß öffnete die Stahltür, die in die Pathologie führte. Der Raum war in einem hellen Beige gefliest, das an Tristesse nicht zu überbieten war. Sechs fahrbare Bahren aus glänzend poliertem Edelstahl standen in einer Reihe längs nebeneinander. Bis auf eine waren sie alle leer. Ich registrierte es nüchtern.
Dr. Umlandt, ein erfahrener Pathologe um die sechzig, mit dem ich beruflich schon häufiger zu tun hatte, stand vor dieser Bahre und sprach etwas in ein Diktaphon. Als er uns sah, lächelte er, beendete die Aufnahme und steckte das kleine weiße Gerät in die Brusttasche seines grünen Kittels.
Die Frau, die auf der Bahre lag, war nackt. Dr. Umlandt nahm ein weißes Laken von einem Instrumententisch neben der Bahre und bedeckte ihre Blöße. Ihre Füße schauten unter dem Laken hervor. An ihrem großen Zeh hing ein gelber Zettel. Aus der Ferne wirkte er wie ein Preisschild. Ich konzentrierte mich auf diesen Zettel und fragte mich, wie hoch der Preis für eine Leiche heute auf dem Schwarzmarkt war und ob dieser unsägliche Plastinate-Doktor, der Leichen zerschnitt und weltweit in Ausstellungen zeigte, sie alle legal erworben hatte.
Ich wollte der Frau nicht ins Gesicht sehen. Ich hatte Angst,
und als ich merkte, wie eine Gänsehaut meinen ganzen Körper überzog, begann ich, meine Atemzüge zu zählen. Ich wusste, dass Groß und Mankiewisc mich beobachteten.
Dr. Umlandt gab mir die Hand. »Wie geht es Ihnen?«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Sind Sie bereit?« Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, und ich nickte.
Als er das Laken von ihrem Gesicht zurückschlug, schickte ich ein Stoßgebet zum Himmel.
Die drei warteten auf meine Reaktion. Ich spürte es, auch wenn ich wie gebannt auf die Frau vor mir starrte. Die Frau, die ich zum letzten Mal im August 1989 gesehen hatte - und die meine Mutter war, auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte.
Ich wurde nicht ohnmächtig, ich schrie nicht, ich schnappte nicht nach Luft. Ich starrte auf die Leiche und konnte den Blick nicht abwenden. Gedanken schossen durch mein Hirn. Keinen konnte ich einfangen.
Sie hatte ein Allerweltsgesicht. Oval und schmal, mit ein paar tief eingekerbten Falten über der Oberlippe, wie sie Raucher häufig aufweisen, einer steilen Falte zwischen den Brauen und einer trockenen Haut, glanzlos und matt über den Wangen. Ihre einst so schönen braunen Augen waren geschlossen, und das Alter hatte einen verbitterten Zug in ihr Gesicht gezeichnet. Sonst gab es nichts Erwähnenswertes. Bis auf die Tatsache, dass sie eine Art milchige Duschhaube trug und ich wusste, weshalb sie die auf hatte: Sie hatten ihr den Schädel geöffnet.
»Sie ist erschossen worden?«
Dr. Umlandt nickte. Ich blickte noch einmal in ihr Gesicht, das so fremd und zugleich so vertraut war.
»Neun Millimeter«, sagte Groß. »So viel wissen wir schon mal.«
»Wie viele Kugeln?«, fragte ich, als hätte mein Gehirn auf Automatik geschaltet.
»Eine«, sagte Dr. Umlandt. »Direkt auf den vierten Halswirbel aufgesetzt. Das setzt sehr gute anatomische Kenntnisse voraus und eine sichere Hand.«
»Und ist sie irgendwo rausgekommen?«
Umlandt schüttelte den Kopf. »Sie ist im vorderen Hirnlappen hängengeblieben.« Er machte mit dem Zeigefinger eine Bewegung vom Hinterkopf hinauf zum vorderen Schädellappen.
»Dann ist sie im Sitzen erschossen worden.«
Groß sah mich erstaunt an.
»Die Flugbahn«, sagte ich. »Von hinten unten nach vorn oben. Dazu muss man nun wirklich kein Genie sein.«
Ich betrachtete den Körper
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