Im Zeichen der Angst Roman
seinem Bett auf und drehte sich zu mir. In seinem eingefallenen Gesicht öffnete sich der Mund. Er versuchte zu sprechen, doch in dem morphiumgeschädigten Körper gehorchten die Muskeln seinem Willen schon längst nicht mehr. Er keuchte und fiel zurück, die offenen Augen wieder an die Decke gerichtet. Ich beugte mich über ihn, strich ihm eine Strähne des ungeschnittenen Haares aus dem Gesicht und betupfte mit einem feuchten Waschlappen sein Gesicht. Eine Träne sammelte sich in seinem linken Auge.
Ich wollte ihn so gern in die Arme nehmen und an mich drücken. Ich wollte ihm so gern sagen, dass er nicht sterben soll. Nicht jetzt, wo ich nach sechs Jahren Haft endlich wieder frei - und hochschwanger war. Nicht hier, in diesem anonymen Krankenhausbett. Und am besten überhaupt nicht. Aber ich wusste es besser. Er starb in diesem fremden Bett, ohne seine Frau noch einmal gesehen und ohne sein zukünftiges Enkelkind jemals in den Armen gehalten zu haben, und niemand konnte das verhindern.
Noch einmal ging ein Ruck durch seinen Körper, seine kühlen, knochigen Finger umklammerten meine Hand mit dem Waschlappen. Noch einmal richtete er sich leicht auf und öffnete den Mund. Diesmal sprach er.
»Such sie«, keuchte er zwischen zwei rasselnden Atemzügen. Seine Augen starrten mich an, ohne zu blinzeln, während eine Gänsehaut meinen gesamten Körper überzog und ich mir wünschte, ganz weit weg zu sein. Doch ich blieb neben ihm liegen, behielt seine kühle Hand in meiner und erwiderte seinen Blick mit einem Nicken.
Er fiel zurück, atmete ein letztes Mal sanft und fast zärtlich aus und starb in dem Moment, als sich die Träne aus dem Augenwinkel löste und seine Wange hinablief.
Wen sollte ich suchen? Meine Mutter? Den oder die Entführer? Die Mitwisser, die es gegeben haben musste? Alle?
Der Entführer meiner Tochter wurde nie gefasst, und ich habe diesem Unbekannten nie vergeben, dass sie starb. Doch ich habe ihn nicht gesucht. Nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis und vor allem nach der Geburt meiner zweiten Tochter Josephine wollte ich nur noch eines: Ich wollte ein neues Leben. Ich wollte wegkommen von einer Vergangenheit aus Tod und Versagen, Schuld und Sühne.
Ich habe auch meiner Mutter nie vergeben, dass sie uns verlassen hat. Ich verbannte deshalb auch sie aus meinem Leben. Ich suchte sie weder nach dem Mauerfall am 9. November 1989 noch nach dem Tod meines Vaters. Und sie suchte mich nicht. Jedenfalls dachte ich das all die Jahre.
So war mein Nicken eine Lüge gewesen, denn ich hatte nicht vor, meine Vergangenheit wieder auferstehen zu lassen.
Doch sieben Jahre nach dem Tod meines Vaters holte mich diese Vergangenheit ein.
1
Hamburg, Oktober 2009
Ich stand wie an jedem letzten Mittwoch des Monats hinter dem Tresen der Schul-Cafeteria und gab gemeinsam mit Patrizia, einer anderen Mutter, in der ersten großen Pause um 9 Uhr 45 Milch an die Grundschüler aus. Ich sah meine Tochter Josephine in der Schlange und winkte ihr zu. Josephine, die darauf bestand, Josey gerufen zu werden, war eine Woche nach ihrem sechsten Geburtstag eingeschult worden und stolz und glücklich, jetzt zu den Großen zu gehören und nicht mehr in den Kindergarten zu müssen. Sie winkte aufgeregt zurück und lachte, wobei ihr Mund zwei Zahnlücken entblößte.
Es erstaunte mich immer wieder aufs Neue, dass dieses kleine zarte Wesen mit den roten Haaren und den Sommersprossen auf der Nase mein Kind sein sollte. Ich hatte mir nach Johannas Tod jahrelang nicht vorstellen können, noch einmal ein eigenes Kind zu haben, und so war es allein meiner grenzenlosen Naivität zuzuschreiben, dass ich überhaupt wieder schwanger wurde. Ich hatte die Antibabypille nie vertragen und sie an meinem 38. Geburtstag aus einer Laune heraus abgesetzt. Ich war der Überzeugung, dass die Mutterrolle in meinem Leben nicht mehr vorgesehen war und ich unmöglich schwanger werden konnte. Ich wurde schneller schwanger, als ich denken konnte. Kai, mein Mann, weinte vor Glück, als ich es ihm noch im Gefängnis sagte.
Denn als ich mit Josey schwanger wurde, verbüßte ich die
letzten Wochen einer neunjährigen Haftstrafe, von der ich auf den Tag sechs Jahre absaß. Das letzte halbe Jahr hatte ich am Wochenende Freigang. So hieß das, wenn man die Wochenenden zu Hause verbringen konnte. Die restlichen drei Jahre erließ man mir auf Bewährung.
Wir würden das Kind schon schaukeln, sagte Kai, als ich es ihm erzählte. Ich war da nicht so
Weitere Kostenlose Bücher