Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
geohrfeigt worden. Kein Zweifel, sie erntete die Früchte des Betrugs ihres Vaters. Rhia betrat das Gatter und legte einen Arm um Alankas Taille, um sie zu trösten und zu zeigen, dass sie auf ihrer Seite war. Das Kinndes Wolfmädchens zitterte, und sie rieb es fest.
Elora streichelte Theras Haar. „Dein Kind ist in Sicherheit, und es geht ihm gut, nur ein bisschen dehydriert ist er, das ist alles.“ Sie hielt inne. „Kannst du uns sagen, was passiert ist? Fang an, wo du willst, aber wir müssen wissen, ob wir die anderen retten können.“
Thera erschauerte, atmete dann tief ein und wischte sich das Gesicht trocken. Nach einigen Augenblicken beruhigte sie sich, als sie in die Trance ihrer Erinnerung verfiel. Als Falkenfrau konnte sie sich an alles erinnern, was sie gesehen oder gehört hatte, ob sie es wollte oder nicht.
„Sie sind um Mitternacht gekommen“, sagte sie sachlich. „Unsere Späher haben Alarm geschlagen. Pumas und Rotluchse haben einige von ihnen erschossen, aber es waren zu viele. Wir haben uns ergeben. Sie haben uns alle auf der großen Lichtung zusammengetrieben, wo wir unsere Freudenfeuer entzünden. Sie haben die Ältesten genommen und ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Wer sich gewehrt hat, wurde stattdessen in den Bauch gestochen. Und ist viel langsamer gestorben.“ Sie rasselte die Details herunter, als würde sie vom Wetter sprechen. „Wer sofort geheilt ist, so wie Orias der Schmetterling, bekam den Kopf eingeschlagen. Wir haben versucht, sie aufzuhalten, aber sie haben uns festgehalten.“
Thera hielt mit offenem Mund inne, als warte sie darauf, dass ihre Erinnerung sie einholte. „Sie haben die Leichen hierhergebracht und sie angebunden. Dann haben sie um einen Falken gebeten, der ihre Nachricht überbringt, und gesagt, alle anderen werden fortgebracht, also habe ich mich freiwillig gemeldet. Sie haben meine Erinnerung überprüft, damit ich nicht lüge, und mich dann angebunden. Die anderen – die Kinder, die jungen Leute, die Väter und Mütter – haben sie mitgenommen und zum Fluss geführt. Sie haben gesagt, sie bringen sie als Gefangene zurück nach Leukos.“
„Die weiße Stadt“, flüsterte Rhia. Neben ihr schauderte Alanka.
„Sie haben gesagt, das ist die Rache für unsere Hilfe beiAsermos“, fuhr Thera fort. „Sie hätten uns in Ruhe gelassen, wenn wir nicht Soldaten und Bogenschützen gesandt hätten, um sie dort zu schlagen.“
Eine eiskalte Faust schloss sich um Rhias Magen. Ihre schlimmsten Ängste hatten sich bestätigt. Diese Toten, diese Zerstörung, die Vernichtung von Kalindos – das alles war allein ihre Schuld.
„Das stimmt nicht“, sagte Alanka und neigte ihren Kopf dicht an Rhias Schulter. „Sie wären so oder so gekommen, egal ob sie gewonnen oder verloren hätten. Nichts hätte sie aufhalten können.“
Aber Rhia konnte spüren, wie die anderen sie verurteilten. Ihre Blicke lasteten wie schwere Steine auf ihr.
„Vielleicht konnten einige entkommen.“ Adrek nahm seinen Bogen und den Köcher mit Pfeilen. „Vielleicht haben die Nachfahren einige Gefangene aus den Augen verloren. Oder … oder vielleicht haben sie die zurückgelassen, die nicht Schritt halten konnten. Einige der Kinder …“ Sein wilder Blick wechselte von einem zum anderen. „Wir müssen sie suchen.“
Alanka war die Erste, die den Schock, den Theras Geschichte ausgelöst hatte, überwand. „Ich gehe.“ Sie verließ das Gatter und sprintete mit Adrek in den Wald.
Rhia drehte sich zu Marek um und deutete auf die Leichen, die um sie herumlagen. Sie mussten diesen grausamen Anblick beseitigen, ehe die anderen ankamen. Marek zog sein Messer und fasste nach dem Seil, das ihm am nächsten war. Sie sah hinab und bemerkte Blut, das durch Mareks Hosenbein sickerte.
Rhia sah zu Elora, deren Augen ebenfalls auf die wieder geöffnete Wunde gerichtet waren. Die Heilerin stand auf und ging auf Marek zu. „Wenigstens einem kann ich helfen“, murmelte sie.
Auf ihrem Weg aus dem Gatter wandte Rhia sich ein letztes Mal nach dem kleinen Etarek um, der still in den Armen seiner Mutter lag. Er war nach seinem Großvater benannt, dem ersten Opfer eines Krieges, der gerade erst begonnen hatte.
3. KAPITEL
D aria!“
Alanka ahmte Adreks Ruf nach seiner zwei Jahre alten Tochter nach, während sie durch den düsteren Wald rannten. Sie fügte die Namen der anderen kalindonischen Kinder hinzu, und die Erinnerung an jedes Gesicht versetzte ihr einen Stich der Reue. Ihr Vater hatte das
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