Im Zeichen der Menschlichkeit
Anblick hat mich krank gemacht.« In Cavriana wird er schon am Tor der Villa Mirra abgewiesen. Woraufhin er sich umgehend nach dem Aufenthaltsort von Marschall Mac-Mahon erkundigt, dem militärischen Oberbefehlshaber in Algerien. Die nun folgende nächtliche Irrfahrt auf der Suche nach dem General könnte auch aus Tolstois Krieg und Frieden stammen. Sie nähern sich gefährlich dem Mincio und damit den feindlichen Linien, so dass der Kutscher es mit der Angst zu tun bekommt: »Er wurde bei dem Gedanken, so nahe am Feinde zu sein, von einer derartigen Furcht ergriffen, daß ich gezwungen war, ihm die Zügel aus der Hand zu nehmen.« Der Warnschuss eines französischen Postens erschreckt sie bis ins Mark, und als dann auch noch ein versprengter Österreicher den offenen Wagen beschießt, ist wohl nicht nur der Kutscher mit seinen Nerven am Ende.
Patrice de Mac-Mahon empfängt den Gast am nächsten Morgen. Dunant berichtet von den verheerenden Zuständen in Castiglione und setzt sich dafür ein, gefangene österreichische Ärzte zur Unterstützung heranzuziehen. Vermutlich bringt er dann auch seine Mühle und die Getreidelieferungen zur Sprache. Gegen zehn Uhr hält er wieder vor der Villa Mirra, wo er diesmal zumindest bis zum Adjutanten vordringt. Er überreicht ihm seine Huldigungsschrift, an eine Audienz aber ist nach wie vor nicht zu denken. Ob Napoleon das Traktat tatsächlich gelesen hat, ist ungewiss, doch ein Routinebillett seiner Eingabestelle, das ein Bote wenig später überbringt, lässt Dunant daran glauben. Zurück in Castiglione, nimmt dieser sich einen weiteren Tag lang der Verwundeten an. »Ihre Gesichter sind schwarz von Fliegen; ihre Blicke schweifen nach allen Seiten, ohne eine Antwort zu erhalten. Bei einigen bilden Mantel, Hemd, Fleisch und Blut eine schauervolle Mischung. ›Lassen Sie mich nicht sterben!‹ rufen manche und ergreifen mit außerordentlicher Kraft meine Hand; sobald aber die letzte Anspannung erschlafft, brechen sie tot zusammen.« Für andere schreibt er Briefe an deren Angehörige, als Lebenszeichen oder letzten Gruß.
Noch immer fehlt es in Castiglione an fast allem. Erschüttert wendet Dunant sich an die Comtesse de Gasparin in Genf, die er aus seinen religiösen Zirkeln kennt: »Seit drei Tagen sehe ich inmitten unerhörten Leids, wie alle Viertelstunde eine Seele die Welt verläßt. Verzeihen Sie, Madame, aber ich schreibe Ihnen unter Tränen; ich kann nicht fortfahren. Man ruft mich wieder.«
Sein Notschrei wird veröffentlicht: im Journal de Genève (unter »Vermischtes«) sowie in der Pariser Wochenzeitung L’Illustration . Und schließlich machen sich drei Theologiestudenten und ein Pastor mit Hilfsgütern auf in die Lombardei. Ermutigt durch Louis Appia, helfen sie in den Lazaretten aus und verteilen Zucker, Zitronen, Pastillen. Aber auch calvinistische Schriften – was im katholischen Italien als Missionierung angesehen wird. Am Ende landen sie als Spione im Gefängnis. Auch helfen will gelernt sein. Schon diese erste Mission zeigt, dass gute Absichten allein noch lange nicht zum Ziel führen und dass die Hilfsmannschaften zwangsläufig in die politische und kulturelle Landschaft eines Krisengebiets hineingezogen werden.
Unterdessen fährt Dunant zurück nach Brescia. Auch dort sind Klöster und Kirchen in Lazarette umgewandelt worden. »Ich finde einige meiner Verwundeten wieder. Sie werden jetzt besser gepflegt, aber ihre Prüfungen sind noch nicht zu Ende.« Und dann folgt, auf vier Seiten, die Beschreibung einer Beinamputation, die einem die Haare zu Berge stehen lässt. Insgesamt bleibt er drei Wochen im Kriegsgebiet. Er scheint eine natürliche Autorität als Helfer zu besitzen. Demonstrativ nimmt er sich vor allem der Österreicher an, damit diese nicht vernachlässigt werden. Wesentliche Elemente der Rotkreuzarbeit sind in seinem Einsatz bereits vorgeformt: die Pflege der Verwundeten durch Freiwillige, ungeachtet von Rang und Nationalität, die Neutralität des Sanitätspersonals, die menschenwürdige Behandlung von Gefangenen, die Suche nach Vermissten und die Korrespondenz mit den Angehörigen. Auch Spendenaufrufe und Öffentlichkeitsarbeit gehören schon dazu. Henry Dunants entscheidende Leistung als Vordenker wird es dann, aus dieser intuitiven Praxis eine exemplarische Angelegenheit zu machen und das Prinzip von Solferino auf Kriege aller Art zu übertragen.
Sein Brief an die Comtesse de Gasparin wird in der Literatur gelegentlich zitiert. Doch
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