Im Zeichen der Menschlichkeit
Fuß des Burghügels von Solferino. Anders als im Norden verebben die Alpen im Süden nicht allmählich, sondern gehen unvermittelt in die Po-Ebene über. Nur hie und da schwingen sich ein paar Moränenhügel auf. Der Gletscher, der den Gardasee schuf, deponierte hier sein Geschiebe. Von der mittelalterlichen Burg sind nur mehr Mauern, Wirtschaftsgebäude und eine trutzige Kirche erhalten. Feierlich wie Kerzen ragen dahinter Zypressen auf. Schwalben flitzen um die Häuser, Oleander flockt über die Mauern. Doch wenn Lonardi zu erzählen beginnt, bricht die Idylle. Er weiß genau, wo Napoleons Gefechtsstand war, welche Artillerie von welchem Hügel feuerte und wo sich später all die Maler und Zeichner postierten, um die Schlacht in ihren Bildern fortleben zu lassen.
Bei seinen Recherchen ist er nur auf zwei Fälle gestoßen, bei denen Zivilpersonen ums Leben kamen. Dennoch bedeutet der Krieg damals für die Bevölkerung eine Heimsuchung. Die drei riesigen Armeen beschlagnahmen alles, was sie an Vorräten, Nutztieren und Transportmitteln finden. Auf beiden Seiten haben Ärzte und Pfleger mit den Verwundeten von Magenta noch alle Hände voll zu tun. Bei den Franzosen ist derart wenig Verbandszeug verfügbar, dass selbst des Kaisers Tischdecken zerschnitten werden. Ein plastisches Bild vermittelt der Bericht von Pawel Oszelda, eines polnischen Arztes in österreichischen Diensten. Sein Ulanenregiment kommt direkt in Solferino zum Einsatz und richtet in der Kirche am Burghof einen Verbandsplatz ein: »Wir ließen alles heraustragen und mit Stroh füllen. Am Anfang, da drängte sich jeder, damit er etwas zu tun bekam. Gegen drei Uhr aber füllten sich auch noch der Vorplatz und der Kirchgarten. Auf zehn Ärzte kamen mehr als zweitausend Verwundete.«
Am Nachmittag betreut Oszelda ganz allein die Verletzten im Burghof, aus Angst vor den feindlichen Kugeln wagt sich sonst niemand mehr hinaus. Als die Franzosen schließlich zum Sturm ansetzen, muss auch er den versprengten Resten seines Regiments hinterherhasten. An die tausend Verwundete bleiben zurück und erwarten den hereinstürmenden Feind. »Der Rückzug aus Solferino wird mir im Leben unvergeßlich bleiben«, bekennt der junge Arzt. Hätte die Genfer Konvention damals schon bestanden und hätte auf dem Kirchlein eine Rotkreuzfahne geweht, um es als Feldlazarett auszuweisen, die Arbeit des Pawel Oszelda wäre zwar immer noch riskant, aber doch erheblich sicherer gewesen. Vor allem hätte er dann fortfahren können, zu operieren.
Mit der Erstürmung des Burghügels durch die französische Armee war die Schlacht von Solferino entschieden.
© DRK
Souvenirs aus Solferino: Kugeln, Münzen, Instrumente, die teilweise auf dem Schlachtfeld selbst gefunden wurden.
© J. F. Müller / DRK
Der Kaiser von Österreich dirigiert seine Divisionen vom nahen Cavriana aus, wo er in der Villa Mirra standesgemäßes Quartier genommen hat. Mit ihren Mosaikfußböden, Marmorsäulen und Arkaden vermittelt sie bis heute eine Ahnung von der einstigen Grandezza Italiens. In den Zedern dröhnen die Zikaden. Natürlich kennt Lonardi auch den letzten Befehlsstand Seiner Majestät. Eine Lindenallee führt hinauf zu diesem betörend schönen Ort, den eine romanische Kapelle krönt. Die langen Hügelreihen schimmern im Abendlicht, seidig glänzen Federwolken im hohen Blau des Himmels. Von hier hat sich Franz Joseph und seinen Generälen der klassische Feldherrenblick geboten. Am Ende muss die österreichische Armee sich geschlagen über den Mincio zurückziehen. Napoleon rückt in Cavriana ein, quartiert sich in ebenjener Villa Mirra ein und legt sich schließlich in das Bett, in dem sein Kontrahent tags zuvor noch genächtigt hat. Nicht ohne vorher ein Telegramm an die Kaiserin aufzugeben: »Grande bataille! Grande victoire!«
Zum Jahrestag der Schlacht lebt das Kriegsgeschehen hier wieder auf. Doch die seinerzeit beteiligten Menschenmassen lassen sich unmöglich nachstellen. Selbst Kostümfilme und Historienschinken müssen sich mit einigen Hundert Komparsen begnügen. Die Zahl der damals eingesetzten Soldaten aber entspricht dem Fassungsvermögen der vier größten deutschen Fußballstadien, zum Bersten voll mit Männern. Von der alljährlichen Reanimation in San Martino würde man daher zunächst nur Mummenschanz mit Platzpatronen erwarten. Doch gerade weil hier eine sehr italienische Mischung aus Pathos und Volksbelustigung geboten wird, lässt sich im Rückschluss etwas von der
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