Im Zeichen der Menschlichkeit
bezeichnenderweise ohne die Nachschrift, die er noch angefügt hat. Denn sie berührt ein Thema, das in humanitären Angelegenheiten stets heikel war und ist: Es geht ums Geld. »Ich habe um die tausend Francs für Hemden, Zigarren und Arznei ausgegeben. Falls ein Komitee willens wäre, sie mir zu erstatten, wäre ich damit einverstanden; sonst würde ich es eben selbst übernehmen.« Ist das den Biographen vielleicht peinlich? Wirft es einen Schatten auf die Lichtgestalt? Der gute Mensch von Solferino, die Verkörperung des Edelmuts – er hält die Hand auf. Betrachtet man diese Äußerung jedoch im Licht seiner Biographie, kann man sie durchaus als gesunden Reflex der Selbsterhaltung ansehen, der ihm später abhandenkommt. Aus kaufmännischer Sicht war die Aktion ein Fehlschlag. Er hat keine Audienz bei Napoleon erlangt, geschweige denn seine Kolonialgeschäfte vorangebracht. Er hat allen Grund, sein Budget zusammenzuhalten. Wirklich wichtig daran ist jedoch, dass ebendieser Brief wenig später die Keimzelle seiner Erinnerung an Solferino bilden wird.
Heute pilgern alljährlich Tausende von Rotkreuzhelfern nach Castiglione, um den Jahrestag der Schlacht zu begehen. Und damit auch den Jahrestag jener Idee, die wenig später den Namen und das Zeichen des Roten Kreuzes tragen sollte. Sie kommen aus Düsseldorf und Rosenheim, aus Rom und Cesenatico, aus Kärnten und Korea. Höhepunkt des Programms ist der Fackelzug von Solferino nach Castiglione. Die meisten Teilnehmer, darunter viele Jugendgruppen, übernachten in einer Zeltstadt. Auf dem Parkplatz gibt sich eine Armada von Rotkreuzfahrzeugen ein Stelldichein. Die Stimmung ist ausgelassen, halb Sommerfest, halb Ferienlager. Trotzdem vermittelt diese Zusammenkunft eine Ahnung davon, wie es in einem Ernstfall zugehen würde. Die Regie hat denn auch Roberto Antonini, Leiter des Katastrophenschutzes beim Italienischen Roten Kreuz. Das Camp verfügt über hallenartige Druckluftzelte mit Stockbetten, fahrbare Generatoren, Ventilatoren mit Sprühnebel, einen Küchenwagen, eine Kommunikationszentrale und einsatzbereite Ambulanzen. Das Wichtigste, meint Antonini, sei es, für alle Eventualitäten gewappnet zu sein.
Historische Krankenkarre im Rotkreuzmuseum von Castiglione.
© J. F. Müller / DRK
Bei Einbruch der Dunkelheit setzt sich der Konvoi am Burgberg von Solferino in Bewegung. Hochrufe und Trommeln schallen durch die sonst so stillen Gassen. Rot ist die vorherrschende Farbe; nur die italienischen Rotkreuzschwestern setzen mit ihren himmelblauen Kostümen einen farbigen Kontrast. Acht Kilometer lang geht es nun durch leicht gewelltes Hügelland. Langsam erlischt das Himmelslicht, bis nur noch das Lauffeuer der Fackeln zu sehen ist. Seit zwanzig Jahren wird diese Prozession veranstaltet. Eine der Initiatorinnen ist Maria Grazia Baccolo. Sie leitet das Rotkreuzmuseum in Castiglione, das den Weg der Institution von den Anfängen bis in die Gegenwart nachzeichnet. Was auf den ersten Blick wirkt wie die Instrumente eines Folterknechts, entpuppt sich als Besteckkasten eines Feldchirurgen: Skalpelle, Sonden, Gefäßklemmen, Säge. Mit solchen Instrumenten arbeitete Pawel Oszelda im Kugelhagel von Solferino. Das Souterrain beherbergt eine ungewöhnliche Oldtimersammlung: Pferdebahren und Krankenkarren in verschiedensten Ausführungen, mit mannshohen Rädern und ausgetüftelter Mechanik, um Stöße abzufedern. Bis heute verwenden Notfallhelfer fahrbare Tragen, denen die gleichen Bauprinzipien zugrunde liegen. Das Museum verkörpert auch selbst ein Stück Rotkreuzgeschichte: Es wurde 1959 vom damaligen Bürgermeister begründet, der kurz zuvor aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war, als einer der letzten Italiener. Nur aufgrund einer Postkarte des Suchdienstes vom Roten Kreuz wussten Angehörige und Behörden um seinen Verbleib und konnten schließlich seine Freilassung erwirken. Zum hundertsten Jahrestag der Schlacht rief er dann das Museum ins Leben.
Wenn Häuser ein Gedächtnis haben, so erleben die Gassen des Städtchens jetzt ein Déjà-vu. Wieder ist die Hauptstraße vollgepfropft mit Menschen, wieder zieht eine endlose Prozession vorbei, doch diesmal heiter und gelöst. Auf der Zielgeraden passiert der Zug grüßend das Museum, bevor er schließlich vor der gravitätischen Kulisse des Doms endet, gleich neben dem Palazzo Pastorio, in dem der Gast aus Genf damals logierte. Aus dem spontanen Samaritertum eines Einzelnen ist eine Weltorganisation
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