Im Zeichen der Menschlichkeit
Erbarmungslosigkeit des realen Geschehens erahnen.
San Martino war die Front der italienischen Truppen. Zum Jahrestag nehmen zweihundert Mitwirkende und einige Tausend Zuschauer an einem Abhang Aufstellung. Eine Blaskapelle intoniert die Nationalhymne, die während des Unabhängigkeitskrieges entstand. Unter dumpfen Trommelschlägen rücken die Regimenter mit wehenden Fahnen heran. Sie tragen lange Flinten mit Ladestöcken und Bajonetten, dazu lederne Tornister und Feldflaschen. Garantiert unverwechselbar sind die Bersaglieri mit ihren mächtigen Federbüschen. Die Österreicher ziehen in blütenweißen Jacken, kornblumenblauen Hosen und Husarenhelmen in die Schlacht. Die Kaiserliche Garde nimmt in den Farben der Trikolore Aufstellung. Publikumslieblinge sind die verwegenen Zuaven mit ihren goldbetressten Jacken und den roten Puffhosen.
Dann bebt die Luft und dröhnt die Erde. Kanonen feuern, die Truppen formieren sich, die Kavallerie prescht mit gezückten Säbeln heran. Attacke! Kürassiere und Tirailleure, Freischärler und Cacciatori delle Alpi – sie alle werfen sich mit Ingrimm auf den Feind. Es kracht und qualmt in einem fort; mittendrin erwarten die Pferde seelenruhig das nächste Kommando. Wohl eine Stunde lang tobt so auf historischem Felde die Schlacht. Am Ende triumphiert Italien, und ein Geschwader roter, weißer und grüner Luftballons entschwebt in Richtung Solferino. Danach sind die Tavernen voll und die Krieger ermattet. Alle haben sie mitgesiegt.
Der Tag danach
Zur wohl berühmtesten Passage aus Dunants Erinnerung an Solferino gerät jene, in der er den Morgen nach der blutigen Schlacht heraufbeschwört. »Die Sonne des 25. Juni beleuchtet eines der schrecklichsten Schauspiele, das sich erdenken läßt. Das Schlachtfeld ist bedeckt mit Leichen von Menschen und Pferden. In den Straßen, Gräben und Wiesen liegen überall Tote. Die Dörfer sind gezeichnet von den Verwüstungen. Die Einwohner haben sich zwanzig Stunden im Keller verborgen; jetzt kommen sie hervor. Ihr verstörtes Aussehen zeugt von den Ängsten, die sie ausgestanden haben.« Tausende von Schwerverletzten sind auf dem Schlachtfeld verblieben, auf das die Sonne unbarmherzig herunterbrennt. Viele verbluten, krepieren elendig in der Hitze. Über den Feldern hängt jener abstoßende, mit nichts zu vergleichende Geruch, wie nur Kadaver ihn verbreiten. Diebe und Leichenfledderer nehmen Gefallenen und Schwerverletzten Tornister, Waffen und Kleidung ab. Jeder ist sich selbst der Nächste. Auf den Straßen herrscht heilloses Chaos. »Da war eine Confusion von Blessierten, Flüchtlingen, Wägen und Pferden«, berichtet der geschlagene Kaiser Franz Joseph von den Turbulenzen des Rückzugs. Ein paar Tage später stattet er einem Veroneser Krankenhaus einen Besuch ab, »wo dreißig Offiziere liegen, einige amputiert. Sie werden vortrefflich behandelt. Auch die Schwestern leisten außerordentlich gute Dienste. Wenn wir nur mehr bekommen könnten.«
Wie schon während des Krimkriegs, verfolgen auch hier Korrespondenten das Geschehen. Darunter Henry Jarvis Raymond, Mitbegründer der New York Times . Am Tag nach der Schlacht berichtet er aus Castiglione: »Die Hauptstraße war voll von Fuhrwerken, Ochsen und Soldaten. Eine Prozession von Verwundeten zog zu einer Kirche, die in ein Krankenlager umgewandelt worden war. Es war der schauerlichste Zug, dem ich je begegnet bin. Einige Gesichter waren von Säbelhieben zerschnitten. Vielen waren die Arme zerschmettert worden, Hunderte trugen die Hände verbunden. Diese Prozession währte von zehn Uhr morgens bis nach Einbruch der Dunkelheit.«
Von Brescia her kommend, trifft auch Dunant am Morgen nach der Schlacht, also am 25. Juni 1859, in Castiglione ein. Das belegen seine Aufzeichnungen und die Überlieferung der Familie Pastorio, in deren Palazzo er damals logiert hat. Sein Kutscher hat ihn zu einem der wenigen Häuser gebracht, die ihm für einen solch vornehmen Herrn geeignet scheinen. In den Tagen zuvor hat die Adelsfamilie ihr Domizil französischen Offizieren zur Verfügung gestellt. Darunter ein gewisser Alphonse Mennessier, Kapitän der Kaiserlichen Garde, dessen Bruder vor Kurzem bei Magenta gefallen ist. Am Morgen des 24. Juni hat er sich eilig von ihnen verabschiedet und ist nicht mehr zurückgekehrt.
Doch schon tags darauf steht ein neuer Gast ins Haus. Er fällt durch seinen hellen Tropenanzug auf. Der durchaus gerechtfertigt ist angesichts der afrikanischen Hitze, die seit Tagen über
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