Im Zeichen der Menschlichkeit
achtzigjährige Vater noch in seinem letzten Brief.
Die Namen der gefallenen Österreicher in der Kapelle lesen sich wie ein Querschnitt durch den Vielvölkerstaat der Donaumonarchie: Wenzl Matejka, Lajos Molnár, Anton Haberzettel, Daniel Vlaisavlevic, Antonio Dezente. Jeder dieser Männer kam an einem anderen Ort zur Welt, jeder zu einer anderen Zeit. Gestorben sind sie alle am selben Tag und am selben Fleck. Dieses Kolosseum des Schreckens bildet den makaberen Schlusspunkt der Schlacht. Wohl nur ein Volk von der expressiven Frömmigkeit der Italiener konnte ein solches Arrangement ersinnen. Die Düsternis der römischen Katakomben, die Inbrunst der mittelalterlichen Märtyrerverehrung, der Todeskult des Barock und das Pathos des Nationalstaats, das alles vereint sich hier zu einer Apotheose der Trauer. Die beiden Beinhäuser gerieten so drastisch und so explizit, wie kein modernes Mahnmal es mehr zu sein wagte.
Als der Faschismus in den zwanziger Jahren erneut militärische Themen forcierte, entstand in Solferino ein Museum, das die Hinterlassenschaft der Schlacht versammelt. Wieso blieb ein französisches Soldbuch in Cavriana? Wem gehörten all die geleerten Portemonnaies? Wem die tschechische Bibel? Die überraschendste Attraktion des Museums ist indes seine Hüterin: Anna Maria Cresci. »Ich bin nur eine einfache Frau«, betont sie immer wieder, doch brächte kein Redenschreiber so eindringliche Plädoyers für die Menschlichkeit zustande wie sie. Obwohl sie vom anderen Ende Italiens stammt – mit rollenden Augen erzählt sie, wie sich ihr Vater in den kalabrischen Bergen der Wölfe und Wildschweine erwehren muss –, hat sie sich das Gedenken an Solferino zur Lebensaufgabe gemacht. Mit dem Elan eines Wirbelwinds führt sie durch die Sammlung. Weist auf das unscheinbare Formular zur Requirierung eines Ochsengespanns für den Krankentransport hin. »Tag: subito , Uhrzeit: subito «. Oder auf das traurige Los des Achille Rufoni, der nach dem unverwundbaren Helden benannt worden war und doch mit fünfzehn Jahren fiel. Sein Vater starb, wie Cresci erzählt, an gebrochenem Herzen. »Ein Soldat ist keine Maschine; er ist immer auch ein Sohn, oft auch ein Vater.« Und dann zieht sie drei unscheinbare Marionetten hervor: zwei Zuaven mit Schießgewehr und Pluderhosen und einen Korporal der Kaiserlichen Garde. Sie sind aus Drahtgestellen und Stoffresten gefertigt, die Gesichter liebevoll bemalt. Ein verwundeter Franzose hatte sie als Mitbringsel für seine Kinder gebastelt, ein Souvenir aus Solferino. Als er seinen Verletzungen erlag, blieben die Figuren im Haus seiner Gastgeber zurück.
Als Reaktion auf den Krieg in Italien wird im Sommer 1859 in Karlsruhe der Badische Frauenverein ins Leben gerufen, ein unmittelbarer Vorläufer des Roten Kreuzes in Deutschland. Ihm steht Großherzogin Luise vor, Tochter des preußischen Königs Wilhelm und der Königin Augusta. Alle drei werden sich zu prominenten Fürsprechern von Dunants Ideen entwickeln. Die Nähe zu Frankreich und die damit verbundene Kriegsgefahr sind überhaupt ein wesentlicher Grund, warum die Vereine des Roten Kreuzes gerade in Baden und Württemberg von Anfang an bemerkenswert aktiv sind. Hinzu kommen die Nachbarschaft zur Schweiz und enge Verbindungen von Henry Dunant und Louis Appia nach Süddeutschland. Anfang 1860 verleiht König Viktor Emanuel sowohl Dunant wie auch Appia den Lazarusorden. Im gleichen Jahr zeichnet Napoleon die Schwestern Pastorio mit Medaillen von der Größe eines Bierdeckels aus. Eine Weile bleibt das Glück ihm hold. Doch elf Jahre nach Solferino wird der Imperator selbst zum Opfer des von ihm geschürten Nationalismus. Die Einigung Deutschlands nach italienischem Vorbild wird sein Waterloo. Woraufhin am Berliner Alexanderplatz ein Sedan-Panorama entsteht.
Festzuhalten bleibt, dass die Popularisierung des Krieges wie das Bemühen um Verringerung seiner »Nebenwirkungen« eine günstige Ausgangssituation für neuartige Hilfsorganisationen schaffen. Und dass das Stichwort Solferino für Europas Öffentlichkeit über Jahre hin zu einem Synonym des Schreckens wird. Von Beginn an spiegelt das Rote Kreuz so auf erstaunlich getreue Art den Geist seiner Zeit.
Im Genfer Palais de l’Athénée wird das Rote Kreuz im Oktober 1863 als internationale Hilfsorganisation ins Leben gerufen.
© Boissonas / DRK
KAPITEL 2 »Angriffe auf Leib und Leben«
Die Gründerjahre des Roten Kreuzes
Wo aber Gefahr ist, wächst
das Rettende
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