Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
schlichten tulpenförmigen Glases, das er hochhielt, um zu sehen, wie das Licht sich in der roten Flüssigkeit brach. Er horchte auf den Wein, versuchte, sich zu entspannen und ihn so zu genießen, wie ein schwerer Bordeaux es nun einmal verdiente. Angeblich sollte der Jahrgang 1983 eine offene und weiche Note haben. Bei diesem hier aber war die Kopfnote zu herb, und der Mann verzog voller Abscheu den Mund, als er erkannte, daß der Wein auch im Abzug in keinem Verhältnis zu dem Preis stand, den die Flasche gekostet hatte. Brüsk stellte er das Glas hin und griff zur Fernbedienung seines Fernsehers. Die Nachrichten hatten bereits angefangen. Die Sendung interessierte ihn nicht, und die Bilder flimmerten an ihm vorbei, während der Mann nichts registrierte, außer daß der Nachrichtensprecher einen unglaublich geschmacklosen Anzug trug. Ein Mann von Welt durfte einfach keine gelben Jacketts tragen.
Er hatte es tun müssen. Es hatte keine Alternative gegeben. Jetzt, da alles vorüber war, empfand er überhaupt nichts. Er hatte ein Gefühl der Befreiung erwartet, die Möglichkeit, nach all diesen Jahren aufzuatmen.
Er hätte sich so gern erleichtert gefühlt. Statt dessen überkam ihn eine ungewohnte Einsamkeit. Die Möbel kamen ihm plötzlich fremd vor. Das alte, schwere Eichenbüfett, auf dem er schon als Kind herumgeklettert war, und das jetzt in seiner ganzen Pracht sein Wohnzimmer beherrschte, mit Traubenreliefs und der exklusiven Sammlung japanischer Netsuke-Miniaturen hinter den geschliffenen Glastüren, schien ihm jetzt nur noch düster und bedrohlich.
Auf dem Tisch zwischen ihm und dem Fernseher lag ein Gegenstand. Warum er ihn mitgenommen hatte, war ihm völlig unklar. Er schüttelte sich und ließ den Nachrichtensprecher mit einem Tastendruck verschwinden. Es war der Abend vor seinem fünfzigsten Geburtstag. Er kam sich viel älter vor, als er sich steif vom Chesterfieldsofa erhob, um in die Küche zu gehen. Die Pastete würde er am besten schon an diesem Abend machen. Erst nach vierundzwanzig Stunden im Kühlschrank entfaltete sie ihren vollen Geschmack.
Für einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, eine weitere Flasche von dem teuren Bordeaux zu öffnen. Er entschied sich jedoch dagegen und begnügte sich mit einem Cognac, den er sich großzügig in ein neues Glas einschenkte.
Doch auch die Küche bot ihm keine Ablenkung.
19.35, Büro der Ministerpräsidentin
Die Frisur saß nun nicht mehr so perfekt. Eine starre, blondierte Locke fiel ihr in die Augen, und sie spürte die Schweißperlen auf der Oberlippe. Nervös griff sie zu ihrer Handtasche, öffnete sie und zog ein frischgebügeltes Taschentuch heraus, das sie sich zuerst an den Mund und dann an die Stirn hielt.
Jetzt würde sie hineingehen. Vielleicht war etwas passiert. Birgitte Volter hatte das Telefon ausgestöpselt, sie mußte also anklopfen. Vielleicht war die Ministerpräsidentin krank. In den letzten Tagen hatte sie gestreßt gewirkt. Obwohl Wenche Andersen an dem lässigen und ungewohnten Stil der Ministerpräsidentin allerlei auszusetzen hatte, mußte sie zugeben, daß sie normalerweise sehr freundlich war. In der vergangenen Woche jedoch war sie fast abweisend gewesen, übellaunig und leicht reizbar. Ob sie krank war? Jetzt würde sie zu ihr gehen. Jetzt.
Statt die Ministerpräsidentin zu stören, ging sie auf die Toilette. Vor dem Spiegel ließ sie sich viel Zeit. Sie wusch sich ausgiebig die Hände und holte dann eine kleine Tube Handcreme aus dem Schränkchen unter dem Waschbecken. Gründlich massierte sie ihre Finger und spürte, wie die Creme in die Haut einzog. Unbewußt schaute sie auf die Uhr und atmete schwer. Es waren erst viereinhalb Minuten vergangen. Die kleinen Goldzeiger schienen fast stillzustehen. Ängstlich und resigniert ging sie zurück zu ihrem Schreibtisch; sogar das Geräusch der Toilettentür, die hinter ihr ins Schloß fiel, hatte ihr angst gemacht.
Jetzt mußte sie hineingehen. Wenche Andersen erhob sich halbwegs, zögerte und setzte sich wieder. Die Anweisung war eindeutig gewesen. Birgitte Volter wollte nicht gestört werden. »Egal, wie.« Doch sie hatte auch nicht gesagt, daß Wenche Andersen Feierabend machen dürfe, und es wäre unerhört gewesen, ohne Erlaubnis das Büro zu verlassen. Jetzt würde sie hineingehen. Sie mußte hineingehen.
Sie legte eine Hand auf die Klinke und horchte an der Tür. Alles still. Vorsichtig tippte sie mit dem Mittelfinger gegen das Holz. Noch immer war alles
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