Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
umgedreht und Roy mit einem gequälten Blick bedacht hatte, ehe er nach oben geschossen war, ans Licht, zum Leben über der Wasseroberfläche, an die Luft.
Niemand hatte Birgitte ermordet. Birgitte hatte sich das Leben genommen.
Coda
Freitag, 4. April 1997
18.30, Büro der Ministerpräsidentin
Als Benjamin die Tür hinter sich schloß, war es, als schließe er das Leben selbst.
Er war genauso gutaussehend wie früher und genauso ernst. Aber er war nicht mehr jünger als sie. Dieses ozeangroße Jahr klaffte nicht mehr zwischen ihnen, jetzt war er ebenbürtig. Sie hatten leise miteinander gesprochen. In gewisser Weise schien in den vergangenen zweiunddreißig Jahren nichts geschehen zu sein; wenn sie ihm ins Gesicht sah, nahm sie den Duft von Flieder und Muttermilch wahr. Sie sah sich selbst in ihrem Prinzessinnenkleid, über der Brust eng geschnitten und mit einem weiten, gewagt kurzen Rock. Sie hatte es selbst genäht, und war glücklich gewesen, weil ihr Körper nach der Geburt so schnell sein altes Aussehen zurückgewonnen hatte. Seine Augen, braune Augen mit Mädchenwimpern, waren Mittsommeraugen, Jugendaugen; Liv war in seinem Blick, und Birgitte Volter wußte, daß ihr Entschluß unwiderruflich feststand.
»Ich muß aus der Kommission ausscheiden«, hatte er gesagt und sich an der kleinen Pillendose zu schaffen gemacht, die seine Eltern ihr und Roy zur Hochzeit geschenkt hatten, die niemand anfassen durfte. Sie konnte sie ihm nicht wegnehmen, konnte ihn nicht daran hindern, sie genauer zu untersuchen, vielleicht würde er sie öffnen, und sie würde es nicht verhindern können. »Ich habe so viele Jahre zum Vergessen gebraucht, und ich hatte es vergessen. Es ist unfaßbar, daß ich es vergessen konnte. Vielleicht konnte ich es, weil ich damals so jung war. Damit tröste ich mich, Birgitte. Ich war so schrecklich jung. Aber ich kann nicht noch einmal schweigen, Birgitte. Wenn ich gefragt werde, muß ich die Wahrheit sagen. Auch wenn sie uns beide trifft.«
Sie hatte nicht versucht, ihn zu überreden. Mechanisch hatte sie einige Worte auf die Computerausdrucke gekritzelt, die er ihr gebracht hatte. Livs Name leuchtete ihr von der Liste entgegen, und ihr wurde klar, daß Livs Tod nicht mehr in einem lange zurückliegenden Jahr versteckt werden konnte, einem Jahr, das sie in ihrem restlichen Leben so energisch auszuwischen versucht hatte.
Benjamin war sanft gewesen. Seine Stimme hatte gesungen, sein Blick hatte ihren erwidert, wann immer sie das wollte. Sie hatten eine Weile miteinander gesprochen und dann noch länger geschwiegen. Am Ende war er aufgestanden. Er hatte es nicht einmal zu verbergen versucht, als er die Pillendose einsteckte. Er hob sie hoch, betrachtete sie und steckte sie wortlos in die Tasche.
»Es ist so lange her, Birgitte. Wir müssen jetzt lernen, damit zu leben. Wir dürfen nicht mehr versuchen, es als ungeschehen zu betrachten. Wir haben beide einen schrecklichen Fehler begangen. Aber es ist lange her.«
Dann hatte er sie verlassen, und als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, schloß sich das Leben für Birgitte Volter.
Sie fürchtete sich nicht vor der Demütigung. Nicht vor dem Verlust der Ehre. Den Sturz, der ihr vielleicht bevorstand, würde sie ertragen können. Sie fürchtete auch nicht das Urteil der anderen. Vielleicht würden sie ihr nicht einmal Vorwürfe machen. Sie hatte Roy. Und Per. Sie verdiente, alles andere zu verlieren, nur diese beiden nicht, und sie würde sie auch nicht verlieren.
Letzte Nacht war sie zur Gewißheit gelangt. Ihr Entschluß war eigentlich schon vor vielen Jahren gefallen.
Zweiunddreißig Jahre waren nicht genug gewesen. Sie hatten die Wunden nicht heilen lassen, hatten sie nur reif genug gemacht, um die Ausmaße ihres Verrats einzusehen. Ihr kleines Mädchen war allein gestorben, obwohl ihre Mutter ganz in der Nähe gewesen war. Ihr Schuldbewußtsein über diesen Verrat mischte sich mit einer Sehnsucht nach Livs Welt.
Das Leben war vorbei, denn Liv war wieder da. Liv war im Zimmer. Birgitte nahm den Duft im Nacken des kleinen Mädchens wahr, sie fühlte die Flaumhärchen an ihrer Nase. Sie spürte, daß ihre Brust zum Bersten gefüllt war, während der kleine Mund sich zu einer hungrigen Grimasse verzog. Sie spürte das gewaltige, fremde, beängstigende Gefühl von Verantwortung, das sie überwältigt hatte, als sie mit nur achtzehn Jahren ihr erstes Kind in den Armen hielt; sie hatte viele Stunden lang geweint. Jetzt hörte sie ihr
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