Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Ungläubigkeit, jedoch nur für einen kurzen Moment; dann riß er sich zusammen und gewann seine Bischofswürde zurück.
»Es ist ein sehr schwerer Moment für Sie«, sagte er. »Selbstverständlich respektiere ich Ihren Wunsch, allein gelassen zu werden. Gibt es vielleicht jemand anderen, den Sie sehen möchten? Vielleicht jemanden aus Ihrer Familie?«
Roy Hansen starrte noch immer auf einen Punkt, den die anderen nicht sehen konnten. Er schluchzte nicht, sondern atmete leicht und gleichmäßig, doch aus seinen blaßblauen Augen floß ein stiller Tränenstrom, ein kleiner Bach, den er schon längst nicht mehr wegzuwischen versuchte.
»Sie kann bleiben«, sagte er, ohne die Parteisekretärin anzusehen.
»Dann empfehle ich mich«, sagte der Bischof, stand aber noch immer nicht auf. »Ich werde für Sie und Ihre Familie beten. Und bitte, rufen Sie an, wenn ich oder jemand anders irgend etwas für Sie tun kann.«
Er stand noch immer nicht auf. Die Parteisekretärin wartete neben der Tür und hätte sie gern geöffnet, um den Abmarsch des Bischofs zu beschleunigen, aber irgend etwas an dieser ganzen Situation ließ sie wie angewurzelt stehenbleiben. Die Minuten vergingen, und nur das Ticken einer Tischuhr in ihrem Eichengehäuse war zu hören. Plötzlich schlug sie neunmal, schwere, angestrengte, zögernde Schläge, so, als sei es ihr lieber, wenn dieser Abend nicht weiterginge.
»Ja ja«, sagte der Bischof mit einem tiefen Seufzer. »Ich empfehle mich also.«
Als er endlich gegangen war und die Parteisekretärin die Tür hinter ihm abgeschlossen hatte, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Roy Hansen sah sie zum ersten Mal an, mit einem verzweifelten Blick, der in einer Grimasse verschwand, als er endlich in Tränen ausbrach. Die Parteisekretärin setzte sich neben ihn, und er ließ zu, daß sie seinen Kopf auf ihren Schoß legte, während er um Atem rang.
»Jemand muß mit Per sprechen«, schluchzte er. »Ich bringe es nicht über mich, mit Per zu sprechen.«
21.03, Odins gate 3
Die Leber war von prima Qualität. Er hielt sie sich unter die Nase und berührte das helle Fleischstück ganz leicht mit der Zunge. Der Schlachter in Torshov war der einzige, zu dem er wirklich Vertrauen hatte, wenn es um Kalbsleber ging, und obwohl die Schlachterei nicht gerade verkehrsgünstig lag, lohnte sich der Umweg.
Die Trüffeln hatte er drei Tage zuvor in Frankreich gekauft. Normalerweise begnügte er sich mit Konserven, aber wenn sich die Gelegenheit bot – was relativ oft der Fall war –, konnte sich doch nichts mit der frischen Variante messen.
Ding-dong.
Er mußte etwas mit der Türklingel machen. Ihr Geräusch war so unharmonisch und atonal, daß er jedesmal zusammenfuhr, wenn sie erklang.
Rasch schaute er auf seine Armbanduhr. Er erwartete keinen Besuch. Es war Freitag, und sein Fest war für Samstag angesetzt.
Auf dem Weg zur Wohnungstür blieb er plötzlich stehen und zögerte einen kurzen Moment. Dann ging er mit resoluten Schritten zum Couchtisch und packte den darauf liegenden Gegenstand. Ohne weiter darüber nachzudenken, öffnete er eine der mit Trauben verzierten Büfettüren und schob den Gegenstand hinter die Leinenwäsche. Dann wischte er sich die Hände an seiner Flanellhose ab und öffnete die Wohnungstür.
»Benjamin Grinde?«
Vor der Tür stand eine Polizistin zusammen mit einem Kollegen. Bei ihrer Frage blickte sie ihm nicht in die Augen, sondern starrte einen Punkt zehn Zentimeter oberhalb seines Kopfes an. Neben ihr stand ein etwas jüngerer Mann mit Brille und einem dichten, gepflegten Bart.
»Ja«, antwortete Benjamin Grinde und trat beiseite, wobei er die Tür weit öffnete, als einladende Geste für die Polizistin und ihren Kollegen.
Die beiden tauschten einen raschen Blick. Dann folgten sie dem Richter vom Obersten Gericht in sein Wohnzimmer.
»Ich nehme an, Sie werden mir gleich erzählen, worum es geht«, sagte er und zeigte aufs Sofa.
Er selbst setzte sich in einen tiefen Ohrensessel. Die Uniformierten blieben stehen, der Polizist trat hinter das Ledersofa. Verlegen machte er sich dort an einer Naht zu schaffen und senkte den Blick.
»Wir möchten Sie bitten, uns auf die Wache zu begleiten«, sagte die Frau, nachdem sie sich geräuspert hatte. Offenbar fühlte sie sich zunehmend unwohl. »Wir, also die Juristen bei uns, hätten Sie gern zu einem … einem Gespräch eingeladen, könnte man sagen.«
»Zu einem Gespräch?«
»Zu einem Verhör.«
Der Bärtige schaute auf und fügte
Weitere Kostenlose Bücher