Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
still. Sie öffnete die äußere Tür und tippte gegen die nächste. Keine Reaktion. Wenche Andersen schwitzte jetzt nicht nur an der Oberlippe. Vorsichtig und zögernd, mit der Option, sie schnell wieder zu schließen, wenn die Ministerpräsidentin in irgendeine wichtige Arbeit vertieft wäre, öffnete sie die Tür einen Spaltbreit. Doch sie konnte nur das Ende der Sitzgruppe mit dem runden Tisch sehen.
Plötzlich wurde Wenche Andersen von einer Entschlossenheit erfaßt, die ihr seit mehreren Stunden ganz fremd gewesen war. Sie riß die Tür sperrangelweit auf. »Entschuldigung«, sagte sie laut. »Ich möchte nicht stören, aber …«
Mehr brauchte sie nicht zu sagen.
Ministerpräsidentin Birgitte Volter saß in ihrem Schreibtischsessel, ihr Oberkörper war über den Schreibtisch gebeugt. Sie erinnerte an eine Studentin, die in einem luxuriösen Lesesaal für ihr Examen büffelte; eine, die nur kurz eingenickt war, die eine kleine Ruhepause brauchte. Wenche Andersen stand einige Meter von ihr entfernt in der Türöffnung, konnte es aber trotzdem sehen: Das Blut, das auf den Überlegungen zum Schengener Abkommen eine große, stillstehende Lache gebildet hatte, war ausgesprochen gut sichtbar. So sichtbar, daß Wenche Andersen nicht einmal nachsah, ob sie ihrer Chefin noch helfen könnte, ihr ein Glas Wasser holen oder ihr ein Taschentuch geben, um die Schweinerei wegzuwischen.
Sie schloß vorsichtig, aber äußerst entschlossen die Türen zum Büro der Ministerpräsidentin, umrundete ihren eigenen Schreibtisch, griff zum Telefon und wählte die Direktdurchwahl zur Osloer Polizei. Schon nach dem ersten Klingelzeichen meldete sich am anderen Ende eine Männerstimme.
»Sie müssen sofort kommen«, sagte Wenche Andersen, und ihre Stimme zitterte nur ganz leicht. »Die Ministerpräsidentin ist tot. Erschossen. Birgitte Volter ist ermordet worden. Sie müssen herkommen.«
Dann legte sie auf, griff zu einem anderen Telefon und hatte die Wachzentrale am Apparat.
»Hier ist das Büro der Ministerpräsidentin«, sagte sie, jetzt ruhiger. »Riegelt das Haus ab. Niemand darf rein, niemand raus. Nur die Polizei. Und vergeßt die Garage nicht.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie auf und wählte dann eine andere vierstellige Nummer.
»Vierzehnter Stock«, sagte der Mann, der im Stockwerk unter ihr in seinem Kasten aus kugelsicherem Glas saß, der Schleuse zum Allerheiligsten, dem Büro der Regierungschefin des Königreiches Norwegen.
»Hier ist das Büro der Ministerpräsidentin«, sagte sie noch einmal. »Die Ministerpräsidentin ist tot. Veranlaßt die Durchführung des Krisenplans.«
So tat Wenche Andersen ihre Pflicht, wie sie immer ihre Arbeit tat: systematisch und tadellos. Die einzigen Hinweise darauf, daß es kein normaler Freitagabend für sie war, lieferten zwei lila Flecken auf ihren Wangen, die immer größer wurden und bald ihr ganzes Gesicht bedeckten.
19.50, Redaktion der Abendzeitung
Als Liten Lettviks Eltern ihr blondes Püppchen damals Lise Annette tauften, obwohl es doch eine ein Jahr ältere Schwester gab, die diesen Namen unweigerlich zu »Liten«, also der Kleinen, zusammenziehen würde, ahnten sie wohl kaum, daß Lise Annette vierundfünfzig Jahre später zweiundneunzig Kilo wiegen, pro Tag zwanzig Zigarillos rauchen und jeden Tag Whisky trinken würde, haarscharf an der Grenze dessen, was eine erschöpfte Leber ertragen kann. Ihr gesamtes Erscheinungsbild mit den grauen, struppigen Haaren und einem Gesicht, das von fast dreißig Jahren in der Osloer Zeitungsstraße Akersgate zeugte, sowie die Tatsache, daß sie noch immer das in den siebziger Jahren erkämpfte Recht für sich geltend machte, keinen BH zu tragen, hätten zu Spötteleien eingeladen. Aber niemand riß über Liten Lettvik Witze. Jedenfalls nicht in ihrer Anwesenheit.
»Was zum Henker will ein Richter vom Obersten Gericht an einem späten Freitagnachmittag bei der Ministerpräsidentin?« murmelte sie vor sich hin.
»Was hast du gesagt?«
Der Knabe vor ihr war ihr Hündchen. Er war klapperdürr, eins sechsundneunzig und hatte immer noch Pickel. Liten Lettvik verachtete Leute wie Knut Fager-borg, Rotzbengel mit einer auf sechs Monate befristeten Vertretungsstelle bei der Abendzeitung. Aber Knut war nützlich. Wie alle anderen bewunderte er sie grenzenlos. Er glaubte, sie werde für eine Verlängerung seiner Stelle sorgen. Da irrte er sich. Aber bis dahin galt: Er war nützlich.
»Komisch«, murmelte sie jetzt, eigentlich
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