Im Zeichen des weißen Delfins (German Edition)
Daisy?«
Sie schüttelt den Kopf und drückt ihn an meine Brust.
Ich hebe ihr Kinn an. »Komm schon, Daisy, du kannst es mir erzählen.«
»Er hat gesagt …« Sie unterdrückt einen Schluchzer. »Er hat gesagt … dass er keine Suchanzeige für ’ne fette gute Fee aufgegeben hat.«
»Du machst Witze!«, sage ich.
Daisy schüttelt den Kopf. »Genau das hat er gesagt.«
Ich versuche, mein Lächeln zu verbergen. »Vergiss es, Daisy. Das war einfach nur total daneben.«
Sie guckt mich mit ihren großen, runden Augen an. »Ich bin doch nicht fett, oder?«
»Natürlich nicht«, sage ich und jetzt lächle ich. »Du bist genau richtig, so wie du bist. Und das, was du getan hast, war wirklich mutig.«
Sie schaut mich an, aber meine Worte können sie nicht überzeugen. Ihr schmutziges Gesicht ist tränenverschmiert. Und wenn sie atmet, wird ihr Körper von Schluchzern geschüttelt. Ich helfe ihr wieder auf die Beine. »Komm schon, schauen wir mal, ob wir den weißen Delfin finden.«
Ihr Gesicht hellt sich ein bisschen auf und sie lächelt. »Wirklich?«
Ich nicke. Natürlich kann ich sie nicht zur geheimen Bucht mitnehmen. Die Klippen sind zu steil zum Hinunterklettern, und außerdem würden wir nicht rechtzeitig zu Hause bei Tante Bev sein.
»Gehen wir zum Strand«, sage ich. »Vielleicht sehen wir ihn dort.«
Ich nehme Daisys Hand und wir wandern den Strand entlang, bis hinüber zu den Gezeitenbecken. Ich blicke aufs Meer, aber weit und breit ist nicht die Spur eines Delfins zu sehen.
»Gehen wir zum Blauen Bassin«, sage ich, »und gucken mal, was es dort gibt.«
Es herrscht immer noch Ebbe. Wir bahnen uns den Wegentlang der Felsplatten und hellen Sandbänke in Richtung Kap. Die im Verborgenen liegenden Becken sind hier sehr tief. Einige davon sind zwei Meter schmale Felsspalten mit eigenen kleinen Unterwasserwelten. Ein Becken hier ist allerdings größer als die anderen. In ihm tummelt sich ein ganzer Mikrokosmos voller Leben.
Das Blaue Bassin wird auf drei Seiten von gewaltigen Schieferplatten begrenzt. Ungefähr vor fünfzig Jahren wurde auf der offenen Seite ein Betonblock eingelassen, um das Wasser im Becken zu halten. Jetzt ist das Bassin ein riesiger tiefer Tümpel, groß genug, um darin zu schwimmen. Die Innenwände sind von Seeanemonen und Seetang gesäumt und manchmal werden mit der Flut Fische angeschwemmt und sitzen dann in der Falle.
Wenn die Flut ihren Höhepunkt erreicht hat, schwappt das Meer gerade so über die Betonplatte, und dann sieht das Blaue Bassin aus wie einer dieser piekfeinen Swimmingpools, die unendlich lang scheinen und von denen man denkt, sie seien ein Teil des Meeres. Ich habe so was in Illustrierten gesehen. Im Sommer können sich die Menschen hier am Strand gegenseitig auf die Füße treten, aber heute sind nur Daisy und ich da.
Ich ziehe Schuhe und Socken aus, kremple die Hosenbeine hoch, setze mich hin und tauche meine Füße ins kalte Meerwasser. »Kannst du was sehen, Daisy?«
»Die Vogellady«, flüstert sie.
»Was?«, frage ich und schaue hoch. Daisy deutet auf die felsige Küste. Ich habe die alte Dame hier noch nie gesehen.Sie sitzt im Schatten der Findlinge am Rand des Wassers. Ihr langes, graues Haar und ihr schwarzes Schultertuch flattern im Wind. Sie reißt von einem Laib Brot Stücke ab und wirft sie in die Luft. Die Möwen kreisen über ihr, stürzen sich in die Tiefe, um die Brotstückchen im Flug zu fangen, und streiten sich auf den Felsen um die dort verstreuten Krümel.
»Das ist Miss Penluna«, sage ich. »Ich dachte, sie sei weggezogen.«
»Sie ist eine Hexe«, sagt Daisy.
»Daisy!«, lache ich. Wenn Miss Penluna einen Besenstiel dabeihätte, würde ich das auch glauben.
Daisy funkelt mich an und verschränkt die Arme. »Sie ist eine Hexe. Tommy Ansty hat gesagt, wenn die Kühe auf der Farm seines Dads große Warzen kriegen, kann sie der Tierarzt nicht heilen, aber die Vogellady schon. Sie spricht einen Zauberspruch und am Tag darauf, sagt Tommy, fallen die Warzen ab.«
»Achtung, aufgepasst!«, sage ich. »Sie kommt auf uns zu und könnte auch dich verzaubern.«
Daisy versucht, mich hochzuziehen. »Los, wir gehen.«
»Sei nicht albern, Daisy«, sage ich. »Es gibt keine Hexen.« Trotzdem verberge ich mich im Schatten der Felsen, als sie an uns vorüberschlurft. Daisy hängt sich an mich und wir beobachten sie, wie sie die Felsstufen hochklettert, die im Lauf der Zeit von den Menschen ausgetreten wurden und die hinauf zum Pfad in Richtung
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