Im Zug (German Edition)
um ihr zur Geburt ihrer dritten Tochter zu gratulieren und ein paar Tage dort auszuspannen. Zugleich wollte sie die ausgezeichneten Bibliotheken nutzen, um wissenschaftliche Forschungen zu betreiben. Es ging um die frühen Recherchen ihres Buches zu Sir Francis Drake und der elisabethanischen Zeit …
Eigentlich hätten die Drake-Recherchen noch Zeit gehabt, schließlich war noch nicht einmal ein Termin vom Verlag gesetzt worden. Aber wenn sie schon einmal in Oxford war …
‚Ich mache mir etwas vor‘, entsann sich die ledige Historikerin, und ihr schmaler Mund wurde fester, ein wenig verbissener. Sie zeigte es selten, baute nach außen die Fassade der Zufriedenheit auf und lächelte viel, lachte, wenn Maggie ihre Scherze machte.
Doch tief in ihrem Herzen konnte sie sich nichts vormachen.
Ein wenig war sie auch neidisch , gestand sich Helen widerwillig ein. Neidisch auf Margaret, den „dunklen Engel“ in der Verwandtschaft, der mit einem jungen, aufstrebenden Arzt verheiratet war und das besaß, was Helen selbst manchmal auch gerne besessen hätte: einen liebenden Mann, einen fürsorglichen Vater der gemeinsamen Kinder und dementsprechend einen reichlichen Kindersegen. Die beiden kleinen Töchter waren ähnlich elfengleich wie Margaret selbst, und es stand zu erwarten, dass auch die kleine Elizabeth so werden würde.
Eine wahre Bilderbuchfamilie!
Wie sah es bei ihr dagegen aus? Eine kontinuierliche, viel zu langsame akademische Karriere, behindert durch verschiedenste Intrigen von Männern in den Hierarchien, die ihr den Aufstieg neideten. Eine Vielzahl kurzfristiger und unbefriedigender Liebesaffären, ohne je auf den Mann gestoßen zu sein, für den es sich lohnte, ernstlich das Risiko der Heirat einzugehen.
Helen war eine kühl kalkulierende Frau, und dann und wann empfand sie das als ihren Fluch. Sie wusste nur zu gut, was es bedeutete, wenn eine intelligente Frau auf der Karriereleiter stand, plötzlich heiratete und Nachwuchs bekam. Den Karriereknick, den das mit sich brachte, konnte man meistens nicht mehr wiedergutmachen.
Und dieses Risiko hatte sie gescheut.
‚Mit 38 sollte man sich allmählich mit der Vorstellung arrangieren, dass man das Ende des evolutiven Astes ist‘, sann sie sarkastisch nach. Aber der Gedanke war zu schmerzhaft, als dass Helen ihn an sich bereitwillig nah genug herangelassen hätte. Schon früher hatte sie gerne mit Kindern gespielt, sich in schwachen Minuten ausgemalt, wie es wohl sein würde, selbst welche zu haben und heranwachsen zu sehen … die Aussicht, dies niemals realisieren zu können, war peinigend.
Immer noch.
Helen blinzelte wieder. Sie musste unbedingt auf andere Gedanken kommen, anderenfalls würde sie Margaret gegenüber auf dem Bahnsteig doch ernstlich in Tränen ausbrechen! Wie sah das denn aus? Hastig sah sie zu dem kleinen Gepäckkoffer im Netz über ihr empor, dann warf Helen einen flinken Blick auf die glimmende Armbanduhr.
„23.46 Uhr“, murmelte sie und konsultierte geschwind den zerknitterten Faltplan, um zu erkennen, wie viel Zeit ihr wohl noch blieb, bis der Zug Oxford erreichte.
„Verdammt, keine fünfzehn Minuten mehr!“
Das alarmierte sie nun wirklich.
Die immer noch attraktive Historikerin, die von Standeskollegen und Mitmenschen gerne jünger eingeschätzt wurde, schreckte aus ihrem Sitz hoch, strich sich ihr modisches Tweedkleid glatt und brachte die kurzen blonden Haare ein wenig in Ordnung. Wenigstens war es dank ihrer gewohnten Frisur kaum möglich, sie im Schlaf in Unordnung zu bringen. Dennoch fühlte Helen mit der ihr eigenen Eitelkeit, dass es gewiss sinnvoller wäre, eine Toilette aufzusuchen, wo es einen Spiegel gab und sie sich schnell noch perfekt stylen konnte.
Da niemand im Abteil war und der Zug ohnehin sehr leer schien, war es sicher unproblematisch, den kleinen Handkoffer oben im Gepäcknetz zu belassen und nur die Handtasche mitzunehmen. Die Toilette konnte ja nicht weit weg sein. Allenfalls eine Sache von vier, fünf Minuten, bis sie wieder hier war. Im Gegensatz zu vielen Frauen, die für das Schickmachen Ewigkeiten benötigten, war Helen auch hier methodisch, schnell und effizient. Das hatten ihre verschiedenen kurzfristigen Lebenspartner immer an ihr geschätzt: Unpünktlichkeiten gab es bei ihr niemals, sie kam stets zur angegebenen Zeit.
„Pünktlich wie die Uhrmacher“, war in Helens Leben gleichsam ein geflügeltes Wort.
Kurz entschlossen schob Helen die Glastür zum Gang auf und trat hinaus.
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