Im Zug (German Edition)
angestrengt. „Bleib logisch … jedes Problem hat eine Lösung, die meist nur dicht unter der Oberfläche liegt. Du kannst sie finden. Konzentriere dich!“
Abstruserweise kam ihr die Lektüre von Sir Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichten in den Sinn und entlockte ihrer Kehle fast ein schrilles Gekicher. Das konnte Helen gerade noch unterdrücken. Insbesondere grub sich ein Zitat aus ihrer Lieblingsgeschichte „ Der zweite Blutflecken“ den Weg an die Oberfläche ihres Bewusstseins: „‚ Die Situation ist verzweifelt, aber nicht hoffnungslos.‘ “
Es beruhigte Helen in keiner Weise. Stattdessen lief ihr ein kalter, eisiger Schauer über den Rücken. Hatte Doyle Holmes nicht auch einmal sagen lassen, dass das, was übrig blieb, wenn man alles Vernünftige ausschaltete, so unvernünftig es dann auch erscheinen mochte, die Wahrheit sein musste?
„Vermutlich im Hund der Baskervilles “, murmelte sie matt. Es war einfach zu lange her, dass sie diese Geschichte gelesen hatte. Zehn Jahre oder länger. Historikerweisheiten halfen jedenfalls jetzt nicht weiter. Nicht in einer solchen Situation, die sich dem logischen Verständnis entzog. Sie fühlte sich irgendwie ausgelaugt, alt und verbraucht, unendlich müde. Sehnte sich nach Schlaf, hatte dafür aber nun definitiv keine Zeit!
Helen Edwards atmete mehrmals tief durch und klärte ihren Kopf.
Also, resümierte die Historikerin langsam: sie hatte sich in Richtung Zugende vorangearbeitet. Hier war niemand zu finden, weder Zuggäste noch Angestellte. Also schien es wenig aussichtsreich, weiter nach hinten zu marschieren. Ein wenig, aber das gestand sie sich nicht ehrlich ein, hatte Helen auch Angst, was sie weiter hinten noch finden würde. Was, wenn der Zug einfach nicht mehr aufhörte, sondern sich bis in alle Ewigkeit Waggon an Waggon reihte? Ad infinitum …?
Sie schüttelte hastig diesen wahnsinnigen Gedanken ab, der nur eine Ausgeburt ihrer Erschöpfung und der nervösen Überreiztheit sein konnte. So etwas GAB es nicht! Unendliche Züge waren einfach nur verrückt!
Angenommen, zwang sie sich zur Wiederaufnahme ihrer Überlegungen, ihre ursprüngliche Annahme stimmte, die Schaffner hatten ihre Arbeit beendet (nun, angesichts der geringen Zahl an Passagieren war es sicherlich nur ein einziger) und befanden sich weiter vorne – dann würde auch die Lösung weiter vorne zu finden sein. Ganz klar. Sie musste einfach den Schaffner oder den Zugführer fragen, was eigentlich los war und wo sie sich befanden. Dann klärte sich alles auf.
Helen spürte, wie die Beklemmung ein Stück weit von ihr wich. Das war die Lösung.
Das MUSSTE sie einfach sein!
Doch seltsam, irgendwie gelang es ihr nicht so recht, zuversichtlich zu sein, als sie aufstand und in die Richtung zu gehen begann, in der ihr eigener Waggon lag.
Ein verstörender Hauch von Irrealität blieb erhalten und verunsicherte hartnäckig.
*
Diesmal war sie klüger als beim Hinweg.
Diesmal merkte sich Helen die Waggonnummern , die mit kleinen, weißen Emailleschildern am Eingang und am Ende jedes Waggons in der Wand eingelassen waren. Es handelte sich wirklich um richtig alte Zugwaggons, gerade so, als machte sie eine Reise in die Vergangenheit. Himmel, die gute alte englische Eisenbahn war auch nicht mehr das, was sie mal gewesen war. So etwas wie moderne Technik, die in den Zügen Einzug gehalten hatte, schien es in diesen Waggons kaum zu geben. Die hier eingesetzten Wagen waren dieselben wie auf Bummelzuglinien in der Provinz!
Da befanden sich ja selbst die Deutschen auf dem Vormarsch in die Tiefen des 21. Jahrhunderts, machte sie eine kritische Anmerkung im Geiste. Selbst wenn ständige Krisen, Zugverspätungen und Unfälle die einstmalige typisch deutsche Pünktlichkeit im Zugverkehr inzwischen Lügen straften, erwiesen sie sich mit komfortablen Intercity- und Interregio-Zügen als viel moderner als das hier.
Helen Edwards schüttelte auch diese unzeitgemäßen Gedanken ab. Es gab nun wirklich Wichtigeres, als über solche Dinge nachzusinnen.
Der Waggon, den sie verließ, war die Nummer 812. Der nächste die 811. Gut so. Ordnung war ein hervorragendes Prinzip, um die gedankliche Ruhe zurück zu gewinnen. Sie spürte, wie die Zuversicht, die sie normalerweise auszeichnete, zurückkehrte. Ah, tat das gut!
Helen wanderte an verhängten Abteilen entlang, die sie beim raschen Marsch nur flüchtig streifte. Linkerhand huschte hinter den Fenstern nun die dunkle Nachtlandschaft vorbei.
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