Im Zug (German Edition)
ohne Abgleich mit einer funktionierenden Uhr nichts bringen würde. Als sich der Sekundenzeiger wieder in Bewegung setzte, hastete sie weiter, und sie wunderte sich nicht, dass ihr der Schweiß ausbrach. Ihr war nämlich gerade ein weiterer bestürzender Gedanke gekommen.
Wenn die Uhr um 23.46 Uhr stehengeblieben war, dann konnte der Zug sich jetzt sonst wo befinden! Sie musste den Halt in Oxford verschlafen haben! Und ihre Schwester würde sich nun wieder rasende Sorgen machen. Sie kannte doch Margaret. Maggie wusste, dass sie sich auf ihre Schwester vollauf verlassen konnte.
Das hatte gerade noch gefehlt!
„Meine Schwester Helen ist wie ein Harrison-Chronometer “, pflegte sie zu sagen. Das hob sie immer gerne hervor, weil John Harrison, der legendäre Uhrmacher und eigentliche Vater der modernen hochseetauglichen Uhren Gegenstand historischer Abhandlungen gewesen war, nicht zuletzt in den vergangenen Jahren. Helen hatte zu seinen Werken auch einen Aufsatz geschrieben. Nicht gerade ein Meisterwerk, aber das einzige, was Maggie je von ihr gelesen hatte. Maggie liebte historische Uhren! Ansonsten war sie für Geschichte überhaupt nicht zu begeistern.
„Helen ist IMMER pünktlich“, behauptete Maggie stets, auch wenn Helen das ein wenig peinlich war. „Nichts im Leben kann sie davon abhalten, pünktlich zu sein! Da ist sie deutscher als die Deutschen.“
Manchmal war es gar nicht so angenehm, als dermaßen perfektionistisch zu gelten. Umso gehässiger wurden dann die Kommentare, wenn die Perfektion zu wünschen übrig ließ. Helen Edwards wusste nur zu gut, dass ihr dieses Desaster ewig nachhängen würde.
„Verdammt!“, murmelte sie verbissen. Das konnte doch alles gar nicht wahr sein!
Einen Moment lang überlegte sie, ob es wichtiger war, zurück ins Abteil zu stürzen und das Handy rauszuholen, um Margaret zu informieren. Aber da der Zug noch in voller Bewegung war, schien das nicht hilfreich zu sein. Es war bestimmt sinnvoller, erst einen Schaffner zu suchen und ihn nach dem genauen Standort und dem nächsten Bahnhof zu fragen. Dort konnte sie aussteigen und Maggie Bescheid geben.
Doch, das war die richtige Strategie: gleich präzise Daten liefern. Nur nicht die Kontrolle über die Situation verlieren! Das war entscheidend.
Also: einen Schaffner suchen!
Helen wünschte sich dennoch, während sie weiter in Richtung Zugende marschierte, sie hätte nicht ihr Handy tief im Koffer verwühlt. Das war ja nur für Notfälle gedacht gewesen, und was für ein Notfall sollte schon vorkommen, wenn man von London nach Oxford fuhr? Das waren ja nur ein paar Stunden Zugfahrt, nicht wahr? Da würde schon nichts passieren …
‚Ich sollte nicht immer so verdammt selbstsicher sein‘, rüffelte sich Helen verärgert und zunehmend nervöser werdend. Sie nahm sich vor, ihre Lektionen gründlich zu lernen und bei der Rückfahrt und künftigen Reisen konsequenter mit Pannen zu rechnen. Und natürlich vorzusorgen. Noch eine solche Blamage wie das hier konnte sie sich nicht erlauben.
Wie gesagt: Wichtig war es jetzt erst einmal, einen Schaffner zu finden.
Aber in Nachtzügen war das immer schwer. Die würden wohl eher ganz vorne sein, wenn die Runde beendet war, und vieles sprach dafür … die resolute Historikerin fand es unmöglich, dass sie sich die Zeit vertrieb, indem sie durch den ganzen Zug hetzte. Aber bitte, wenn sie so dämlich war, den Halt zu verschlafen und außerdem noch vergaß, die Uhr aufzuziehen … dann war sie selbst schuld und musste in den sauren Apfel beißen.
Lamentieren machte die Sache nun auch nicht besser.
Helen rechtfertigte ihre Marschrichtung damit, dass sie, wenn sie den Zug bis zum Ende durchschritt und den Schaffner nicht fand, ihn dann ja auf alle Fälle weiter vorne finden würde. Die paar Minuten Zeitverschwendung konnte man sich wohl leisten. So endlos lang würde der Zug ja wohl nicht sein, vielleicht fünfzehn Waggons weit. Und acht davon hatte sie schon durchquert.
Sie versuchte sich vergeblich zu erinnern, im wievielten Waggon sie selbst gesessen hatte. Ob er in der Mitte oder weiter vorne gewesen war. Alles, was Helen noch wusste, war, dass sie sich bequem ins leere Abteil gesetzt hatte und sich wie eine kleine Königin vorgekommen war. Einfach erleichtert darüber, noch rechtzeitig den Nachtzug erreicht zu haben. Die U-Bahn in London besaß die unmögliche Eigenschaft, alle sicherheitshalber eingeplanten Zusatzminuten durch Verspätungen oder unnötig lange
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