Imagica
gewöhnliche Sinnesfreuden, Wohlleben und Vergessen das Feuer gelöscht hatten. Doch wo sollte er nach Verbündeten Ausschau halten? Wo sollte er Männer und Frauen suchen, die nicht lachten, wenn er von den Domänen erzählte, von der Gefahr, die der Autokrat darstellte, jemand mit seinem eigenen Gesicht? Noch vor einem halben Jahr hätte auch Gentle schallend gelacht. Zu dem Kreis seiner Bekannten gehörte niemand mit genug Fantasie, um die Realität derartiger Schilderungen für möglich zu halten. Ein Mann, der seit zwei Jahrhunderten lebte? Oh, sie wollten an die ewige Jugend glauben, doch jeden Morgen genügte ein Blick in den Spiegel, um ihre Hoffnungen zu zerstören. Und was das Göttliche betraf... Einige von ihnen mochten zu einem vagen Pantheismus neigen, sie alle leugneten ihn jedoch hartnäckig, wenn sie nüchtern waren. Nur Clem hatte sich einmal für organisierte Religion ausgesprochen, aber im Vergleich mit der Botschaft, die Gentle aus den Domänen brachte, waren die betreffenden Dogmen ebenso antithetisch wie die Glaubensgrundsätze eines Nihilisten. Selbst wenn es gelang, Clem vom Altargitter fortzulocken, damit er Gentle half... Was konnten zwei Personen gegen einen Maestro ausrichten, der mächtig genug war, um über Imagica zu herrschen?
Eine andere Möglichkeit war Judith. Sie würde Gentles Berichte sicher nicht als absurd zurückweisen, aber seit dem Beginn dieser Tragödie war sie von ihm so scheußlich behandelt worden, daß er kaum Vergebung von ihr erwarten durfte, geschweige denn tatkräftige Unterstützung. Außerdem: 745
Wo lagen ihre Sympathien? Sie ähnelte Quaisoir bis aufs Haar, hatte jedoch das Licht der Welt in der gleichen blutlosen Gebärmutter erblickt, in der auch Sartori entstanden war.
Mußte sie deshalb nicht seine geistige Schwester sein? Nicht geboren, sondern erschaffen. Wenn Judith wählen müßte zwischen dem Schlächter von Yzordderrex und den Personen, die ihn zur Rechenschaft ziehen wollten, wenn ein Sieg über den Autokraten bedeutete, daß sie das einzige Wesen in fünf Welten verlor, das ihr eigenes Schicksal teilte - wie würde sie sich dann entscheiden? Gentle und sie hatten sich gegenseitig viel bedeutet - Wer weiß, zu wie vielen Affären es im Lauf der Jahrhunderte zwischen uns gekommen ist, dachte er. Wir liebten uns eine Zeitlang, um dann wieder verschiedene Wege zu gehen, um zu vergessen - und um die Glut der Leidenschaft später erneut zu entdecken -, aber von jetzt an mußte er ihr gegenüber größte Vorsicht walten lassen. Bei früheren Dramen war sie unschuldig gewesen, ein Werkzeug in grausamen, rück-sichtslosen Händen. Doch über Jahrzehnte hinweg reifte sie allmählich zu einer Frau, die weder als Opfer noch als Instrument bezeichnet werden konnte. Wenn sie irgendwann das Rätsel ihrer Vergangenheit löste, so mochte sie durchaus fähig sein, Rache zu üben an dem Mann, der sie geschaffen hatte. Dann spielten frühere Liebeserklärungen keine Rolle mehr.
Floccus sah, daß einer seiner beiden Passagiere wach war, und daraufhin beschrieb er ihre Situation. Sie kamen gut voran, meinte er. In einer Stunde würden sie die Berge erreichen, und jenseits davon erstreckte sich die Wüste.
»Wie lange brauchen wir bis zur Rasur?« fragte Gentle.
»Vor Einbruch der Nacht sind wir da«, versprach Dado.
»Wie geht es dem Mystif?«
»Nicht sehr gut.«
»Es kommt alles in Ordnung«, sagte Floccus zuversichtlich.
»Ich weiß von Leuten, die bereits mit einem Bein im Grab standen und in der Rasur geheilt wurden. Dort geschehen 746
Wunder. Nun, das ist auch anderenorts der Fall - man muß die Dinge nur aus den richtigen Perspektiven betrachten. So lautet eine der Weisheiten von Pater Athanasius. Sie waren mit ihm im Gefängnis, oder?«
»Nun, ich bin nicht in dem Sinne eingekerkert gewesen.
Zumindest nicht so wie Athanasius.«
»Aber Sie sind ihm begegnet?«
»Ja. Er hat uns getraut.«
»Sie und den Mystif? Sie bilden ein Ehepaar?« Floccus pfiff leise. »Dann sind Sie wirklich ein Glückspilz. Ich habe viel von Mystifs gehört - aber noch nie davon, daß einer von ihnen heiratete. Für gewöhnlich beschränken sie sich darauf, Liebhaber zu sein, Herzen zu brechen und so weiter.« Er pfiff erneut. »Eine wundervolle Sache. Und keine Sorge: Wir bewahren sie vor dem Tod. Oh, Entschuldigung. Es ist keine Sie, oder? Aber wenn ich den Mystif ansehe... dann zeigen mir die Augen eine Frau. Ich nehme an, das ist der spezielle Zauber jener
Weitere Kostenlose Bücher