Imagica
Wesen.«
»Ein Teil davon.«
»Darf ich Sie etwas fragen?«
»Nur zu.«
»Wenn Sie den Mystif ansehen... Was erkennen Sie dann?«
»Es hängt von den jeweiligen Umständen ab«, erwiderte Gentle. »Ich habe eine Frau in ihm gesehen. Auch einen Mann.
Und mich selbst.«
»Und jetzt?« erkundigte sich Floccus. »Was sehen Sie jetzt?«
Gentle blickte auf den Mystif hinab. »Ich sehe Pie«, sagte er.
»Ich sehe ein Gesicht, das ich liebe.«
Floccus reagierte nicht auf diese Bemerkung, und nach dem überschäumenden Enthusiasmus des kleinen Mannes wußte Zacharias, daß sein Schweigen etwas zu bedeuten hatte.
»Was denken Sie?« fragte er.
»Möchten Sie das wirklich wissen?«
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»Ja. Wir sind Freunde. Oder wir werden es. Bitte antworten Sie mir.«
»Ich habe an folgendes gedacht. Es sollte Ihnen nicht zu wichtig sein, wie der Mystif aussieht. Die Rasur ist kaum der geeignete Ort, um Dinge so zu lieben, wie sie sind. Man wird dort gesund, ja, aber man verändert sich auch. Verstehen Sie?«
Dado ließ das Lenkrad los und hielt die Hände so, daß sie die Schalen einer imaginären Waage bildeten. »Es muß ein Gleichgewicht gewahrt bleiben. Etwas wird gegeben, und etwas wird genommen.«
»Welche Art von Veränderung meinen Sie?« fragte Gentle.
»Es kommt auf die jeweiligen Personen an«, sagte Floccus.
»Sie werden es selbst sehen, schon sehr bald. Wenn wir der Ersten Domäne nahe sind, ist nichts mehr so, wie es zu sein scheint.«
»Gilt das nicht für alle Orte?« entgegnete Gentle. »Je länger mein Leben, desto mehr Unsicherheit bringt es mir.«
Dado schloß wieder beide Hände ums Lenkrad, schwieg erneut und wirkte sehr nachdenklich. »Ich glaube, darüber hat Pater Athanasius nie gesprochen«, sagte er leise. »Oder vielleicht doch? Ich erinnere mich nicht an alle seine Predigt.«
An dieser Stelle endete das Gespräch, und dadurch fand Gentle Gelegenheit, seine Überlegungen fortzusetzen. Sie näherten sich nun der Grenze jener Domäne, aus der die Eurhetemecs einst verbannt worden waren, und Zacharias fiel plötzlich ein: Indem er den Verwandler Pie'oh'pah zu einer Region brachte, in der Verwandlungen alltäglich waren - löste er damit jenen Knoten, den Athanasius in der Wiege von Chzercemit geknüpft hatte?
2
Architektonische Rhetorik hatte Judith nie sehr beeindruckt, und die Höfe und Flure des Palastes boten ihr keinen Anlaß, diese Gleichgültigkeit aufzugeben. Einige Dinge erinnerten sie 748
zwar an natürliche Ästhetik: Rauch, der wie Morgendunst über die verlassenen Gärten zog oder am kalten Stein eines Turms festhaftete, wie Wolken am Gipfel eines hohen Berges. Doch so etwas war sehr selten. Hier schien alles bombastisch zu sein, dazu bestimmt, Ehrfurcht zu wecken. Jude hielt die Bauwerke in erster Linie für monolithisch.
Als sie schließlich Quaisoirs Gemächer erreichten, atmete sie erleichtert auf: Von den lächerlichen Ornamenten und Verzierungen einmal abgesehen - die Kammern vermittelten aufgrund der geschmacklichen Exzesse immerhin einen Eindruck von Menschlichkeit. An diesem Ort vernahm Judith dann auch die erste freundliche Stimme seit vielen Stunden.
Doch dem Willkommensgruß folgte ein entsetzter Aufschrei, als die Zofe Concupiscentia - ein mit vielen Schwänzen beziehungsweise Rückententakeln ausgestattetes Wesen -
feststellte, daß ihre Herrin eine Zwillingsschwester bekommen und ihre Augen verloren hatte. Erst nach langem Jammern konnte sie dazu bewegt werden, sich um Quaisoir zu kümmern, und dabei zitterten ihre Hände.
Inzwischen kletterte der Komet am Firmament empor, und das Fenster von Quaisoirs Schlafzimmer bot einen weiten Überblick über die Verheerungen. Judith befand sich erst seit kurzer Zeit in dieser anderen Welt, aber sie hatte genug beobachtet, um zu folgender Erkenntnis zu gelangen: Yzordderrex war reif gewesen für eine derartige Katastrophe.
Einige Bürger der Stadt, vielleicht sogar viele, hatten das Feuer als ein reinigendes Element geschürt. Selbst ›Sünder‹ Hebbert, in dessen Adern bestimmt kein Anarchistenblut floß, hatte angedeutet, daß für Yzordderrex die Zeit abgelaufen sei.
Trotzdem: Judith bedauerte den urbanen Tod. Zu deutlich erinnerte sie sich an ihren, Oscar gegenüber mehrfach geäußerten Wunsch, diese Stadt zu sehen, ihre Wunder kennenzulernen. Jetzt kehrte sie mit der Asche von Yzordderrex an ihren Schuhen und Brandgeruch in der Nase 749
zur Fünften Domäne zurück, wie ein Venedig-Tourist, der mit Bildern
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