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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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empfangen.«
    »Aber bis dahin...«
    »Bis dahin bin ich befugt, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, daß du die Pflichten des Rekonzilianten wahrnimmst. Wenn es dazu notwendig ist, soll 899

    ich dich mit Erinnerungen in den Wahnsinn treiben...«
    »Du würdest nicht zögern, von diesem Mittel Gebrauch zu machen«, stellte Gentle fest.
    »Mir bleibt keine Wahl, Maestro. Ich bin ein gehorsamer Diener...«
    Rede nur weiter, dachte Zacharias, als das Wesen seine Unterwürfigkeit in allen Einzelheiten beschrieb. Er entschied sich gegen die Tür: Wahrscheinlich war sie nicht nur einmal abgeschlossen, sondern gleich zwei- oder dreimal. Das Fenster, durch das er ins Haus geklettert war, bot bessere Chancen. Er stellte sich vor, einfach nach draußen zu springen... Selbst wenn er sich dabei einige Knochen brach - es war ein geringer Preis für Flucht und Freiheit.
    Scheinbar beiläufig sah er sich um, wie auf der Suche nach einem halbwegs geeigneten Schlafplatz, vermied dabei aber, zur Ausgangstür zu blicken. Etwa zehn Schritte trennten ihn von dem Zimmer mit dem offenen Fenster, und dort waren es noch einmal zehn bis zum Fenster. Dunkles Loch ließ sich noch immer weitschweifig über seine Demut aus - es hatte keinen Sinn, auf einen besser geeigneten Zeitpunkt zu warten.
    Gentle ging erst zur Treppe, änderte dann plötzlich die Richtung und lief zur Tür. Erst nach drei Schritten begriff der Dämon in ihm, daß irgend etwas nicht mit rechten Dingen zuging.
    »Sei nicht dumm!« zischte er.
    Zacharias merkte nun, daß er bei seinen Schätzungen zu vorsichtig gewesen war. Er brauchte nicht zehn Schritte, um das Zimmer zu erreichen, sondern nur acht. Dann noch einmal sechs, um es zu durchqueren.
    »Ich warne dich!« kreischte das Wesen. Unmittelbar darauf wurde ihm klar, daß es Gentle mit Worten allein nicht aufhalten konnte.
    Einen Meter vor der Tür merkte Zacharias, wie sich in seinem Kopf etwas öffnete. Der schmale Riß, durch den bisher 900

    die Erinnerungen gesickert waren, klaffte jäh auseinander, und das Rinnsal verwandelte sich erst in einen Fluß, dann in einen reißenden Strom und schwoll schließlich zu einer Flutwelle an.
    Er sah das Fenster in der gegenüberliegenden Wand, dahinter die Straße, aber das Tosen der Reminiszenzen packte seinen Willen, das Haus zu verlassen, und spülte ihn einfach fort.
    Neunzehn verschiedene Leben füllten den Zeitraum zwischen Sartori und John Furie Zacharias. Pie hatte sein Unterbewußtsein darauf programmiert, ihn in einem Nebel aus Unwissenheit vom einen Leben zum nächsten zu führen.
    Dieser spezielle Dunst lichtete sich jedesmal erst nach erfolgtem Wechsel, wenn das neue Ich in einer fremden Stadt erwachte, mit einem neuen Namen. Welche Existenz auch immer er aufgab - ständig ließ er Schmerz zurück. Natürlich versuchte er meist, sich behutsam und taktvoll aus seinem Bekanntenkreis zu lösen und alle Spuren hinter sich zu verwischen, aber zweifellos führte sein plötzliches Verschwinden oft dazu, daß jemand litt, Personen, denen er etwas bedeutete. Nur er selbst kam ohne emotionale Narben davon. Bis heute. Jetzt kehrten die neunzehn Leben zurück, und mit ihnen kamen jene Schmerzen, denen er bisher ausgewichen war. Gentles Denken und Empfinden füllte sich mit Fragmenten der Vergangenheit, mit Teilen von neunzehn angefangenen und nie beendeten Geschichten, alle geprägt von der gleichen fast infantilen Gier nach sinnlichen Erfahrungen, die seine Existenz als John Furie Zacharias prägte. In jedem Leben hatte er den besonderen Luxus der Bewunderung genossen. Er war geliebt und gefeiert worden, und die Gründe dafür hießen Charme, Ausstrahlungskraft, eine Aura des Geheimnisvollen. Doch dieser Umstand genügte nicht, um den Strom der Erinnerungen erträglicher zu gestalten. Er bewahrte ihn auch nicht vor Panik, die ihn erbeben ließ, als sein kleines, vertrautes Selbst in der Fülle von Einzelheiten splitterte, die aus den früheren Leben stammten.
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    Zwei Jahrhunderte lang hatte er sich nie die Fragen gestellt, die andere Seelen früher oder später beschäftigten: Wer bin ich? Warum lebe ich? Was werde ich nach dem Tod sein?
    Jetzt bekam er zu viele Antworten, und das war noch weitaus beunruhigender als das Fehlen von Erklärungen. Er bestand aus einer ganzen Schar von verschiedenen Identitäten, die er wie Masken aufgesetzt hatte, und darin mangelte es nicht an Banalem. Doch in seinem Gedächtnis sammelten sich nie genug Jahre an, um

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