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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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trat um sich. Doch zu viele Hände - Hände? -
    griffen nach ihm, und er gewann keinen zusätzlichen Bewegungsspielraum. Hinter dem roten Schemen von Esthers Wut sah er Abelove, der sich bekreuzigte und die Kerze zum Mund hob.
    »Nein!« rief Gentle. Selbst ein wenig Licht war besser als gar keines. Abelove hörte die Furcht in seiner Stimme, sah ihn an und zuckte mit den Schultern - dann pustete er die Flamme aus. Zacharias fühlte, wie sich das feuchte Fleisch um ihn herum zu einer regelrechten Flutwelle auftürmte und auf ihn herabgischtete. Jemand hämmerte auf seine Hoden ein, packte sie dann und drückte zu. Er schrie - und kreischte eine Oktave höher, als Zähne an seinen Kniesehnen nagten.
    »Nach unten!« heulte Esther. »Drückt ihn nach unten!«
    Ihre Schlinge hatte sich so fest um Gentles Hals gezogen, daß er kaum mehr atmen konnte. Er erstickte, wurde gleichzeitig zermalmt und gefressen. Jemand zwang seinen Kopf nach unten, und er wußte: Abelove und die anderen würden nun versuchen, ihm die Augen auszustechen. Das wäre mein Ende, fuhr es ihm durch den Sinn. Selbst wenn er durch ein Wunder dem Tod entrann: Ohne Augen taugte er nichts.
    Entmannt konnte er das Leben fortsetzen, aber nicht als 892

    Blinder. Finger krochen ihm über die Wangen, näherten sich den Pupillen. Gentle begriff, daß ihm nur noch wenige Sekunden Augenlicht blieben, und deshalb hob er die Lider, starrte in die Dunkelheit nach oben und hoffte, daß es ihm vergönnt war, noch einmal etwas zu sehen: vielleicht einen trüben Strahl aus staubigem Mondschein, oder ein zitterndes Spinnennetz. Aber die Finsternis blieb völlig schwarz, verurteilte ihn dazu, die Augen zu verlieren, ohne daß sie ihm zum letztenmal etwas zeigten.
    Doch dann bewegte sich etwas im Dunkeln. Ein Phantom entstand dort aus dem Nichts, entfaltete sich in rauchartigen Schlieren und gewann imaginäre Gestalt. Zweifellos ein Trugbild, geschaffen von Pein. Aber es linderte Gentles Schmerz ein wenig, ein Gesicht zu sehen, dessen Züge ihn an ein glückliches Kind erinnerten.
    »Öffne dich mir«, sagte die Erscheinung. »Gib den Kampf auf und laß mich in dir sein.«
    Noch ein Trugbild, dachte Gentle. Eine Vision, die mir Befreiung verheißt von einem Alptraum, in dem ich kastriert werde, in dem man mir die Augen zerquetscht. Aber das eine war real - seine Qualen bewiesen es ganz deutlich. Warum nicht auch das andere?
    »Nimm mich auf in deinem Kopf und in deinem Herzen«, flüsterten die kindlichen Lippen.
    »Wie?« entfuhr es Gentle. Abelove und die anderen lachten, wiederholten den Schrei mit unüberhörbarem Hohn.
    »Wie? Wie? Wie?« intonierten sie.
    »Gib den Kampf auf«, antwortete das Kind.
    Das fiel Gentle nicht schwer - er hatte die Konfrontation ohnehin verloren, und deshalb sah er keinen Sinn darin, sich noch länger zu wehren. Er hielt den Blick auf das Kind gerichtet, während er jeden Muskel in seinem Leib entspannte.
    Aus den Fäusten wurden Hände, und die Beine traten nicht mehr um sich. Der Kopf sank mit offenem Mund nach hinten.
    893

    »Öffne dein Herz und deinen Geist«, flüsterte das Phantom.
    »Ja«, sagte Zacharias.
    Doch tief in seinem Innern regte sich Zweifel. Zu Anfang hatte alles melodramatisch gewirkt, und das war noch immer der Fall. Eine von Cherub aus dem Fegefeuer gerettete Seele -
    und nun sollte sie sich öffnen, um das Heil zu empfangen. Wie dem auch sei... Gentle gab sich der Hoffnung bereitwillig hin, öffnete sein Herz, und das Kind schwebte herab, bevor die Skepsis eine Barriere bauen konnte. Zacharias schmeckte ein anderes Ich in der Kehle, spürte die davon ausgehende Kühle in seinen Adern. Der Eindringling hatte nicht zuviel in Aussicht gestellt: Die Peiniger wichen zurück, und ihr enttäuschtes Kreischen verhallte, als sich die zerfetzten Körper wie Nebelschwaden im Sonnenschein auflösten.
    Gentle fühlte trockenen Boden unter der Wange, obgleich eben noch Esthers ›Röcke‹ über die Dielen gestrichen waren.
    Auch ihr Gestank war verschwunden. Er rollte sich auf die Seite und tastete vorsichtig nach den Kniesehnen - sie waren nicht zerbissen. Und die Hoden... sie schmerzten nicht einmal.
    Er lachte voller Erleichterung darüber, unverletzt zu sein, und während er lachte, suchten seine Hände nach der Kerze.
    Halluzinationen! Nichts weiter als Halluzinationen! Vielleicht eine letzte Prüfung, ersonnen von einem Teil des eigenen Ichs -
    um ihn in die Lage zu versetzen, seine Schuldgefühle zu überwinden, damit

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