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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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verschwendete sein Lächeln nicht an sie. Weil er genau wußte, daß sie seine Methoden und Tricks kannte. Statt dessen bedachte er sie mit einem entschuldigenden Blick, hob das Glas, das Klein ihm gegeben hatte, und prostete ihr zu.
    912

    Verwandlungen waren ihm immer sehr leicht gefallen -
    vielleicht lag es an seiner Maestro-Natur; vielleicht entfaltete sie sich auf dieser banalen Ebene. In nur vierundzwanzig Stunden schien er sich vollkommen erneuert zu haben; das Haar war geschnitten und gekämmt, das vormals schmutzige Gesicht sauber und rasiert. Er trug weiße Kleidung und sah aus wie ein Kricketspieler, der gerade von einer siegreichen Partie kam. Judith starrte ihn verblüfft an, suchte nach Anzeichen des besorgten, an sich selbst zweifelnden Mannes, den sie beim Atelier zurückgelassen hatte, doch es war ihm gelungen, Kummer und Furcht vollkommen aus seinem äußeren Erscheinungsbild zu verbannen. Sie bewunderte ihn dafür. Und ihre Gefühle gingen über Bewunderung hinaus. Jetzt war Gentle wieder der Liebhaber, der ihr im Traum erschienen war, als sie in Quaisoirs Bett geschlafen hatte. Erregung stieg prickelnd in ihr auf, als sie ihn auf diese Weise sah. Jude dachte an ihre frühere Beziehung, die in Tränen und Schmerz geendet hatte. Es kam Masochismus gleich, eine Wiederholung derartiger Erfahrungen herauszufordern. Außerdem lenkte es von weitaus wichtigeren Dingen ab.
    Und doch, und doch... Vielleicht war es unvermeidlich, daß sie schließlich wieder zueinander fanden. Wenn das stimmte..., dann verloren sie nur Zeit, wenn sie sich darauf beschränkten, sondierende Blicke zu wechseln. Weitaus besser wäre es gewesen, die Unzertrennlichkeit zu akzeptieren. Diesmal stellte mangelndes Verstehen im Hinblick auf die Vergangenheit kein Problem mehr dar; diesmal kannten sie beide die Hintergründe
    - ein Wissen, das zu einem stabilen Fundament für die gemeinsame Zukunft werden mochte.
    Klein winkte ihr zu, aber Judith blieb zwischen den Kunststoffblumen stehen. Es war ihr natürlich klar, warum Chester sie und Gentle eingeladen hatte - um ein Drama zu beobachten. Er, Luis und Duncan spielten nur die Rolle von Zuschauern bei einer Szene, die Vanessa, Simone und Judith 913

    als Göttinnen auftreten ließ. Und Gentle als den Helden, der zwischen ihnen wählen mußte. Eine groteske Sache, mit der Jude so wenig wie möglich zu tun haben wollte. Sie ging weiter, zum Ende des Gartens, während das Geplänkel auf dem Rasen andauerte. Dicht vor der Mauer erwartete sie ein sonderbarer Anblick: Hier existierte eine Lichtung im künstlichen Dschungel, und ein kleiner Rosenstock blühte an jener Stelle - eine echte Pflanze, nicht annähernd so prächtig wie die andern aus Kunststoff. Während sie darüber rätselte, trat Luis mit einem Glas Champagner an ihre Seite.
    »Eine seiner Katzen«, sagte er. »Gloriana. Wurde im März von einem Auto überfahren. Er war todunglücklich. Konnte nicht mehr schlafen. Wollte mit niemandem reden. Ich befürchtete schon, daß er Selbstmord begehen könnte.«
    »Er ist seltsam«, erwiderte Judith und blickte zu Klein hinüber - Gentle legte er den Arm um die Schultern und lachte laut. »Oft verhält er sich so, als sei alles nur ein Spiel...«
    »Weil er zuviel dabei empfindet«, erklärte Luis.
    »Das bezweifle ich.«
    »Ich kenne ihn seit mehr als zwanzig Jahren. Wir streiten uns. Wir vertragen uns wieder. Wir streiten uns erneut. Er ist ein anständiger Kerl, glauben Sie mir. Aber er fürchtet sich so sehr vor Gefühlen, daß er alles ins Lächerliche zieht. Sie sind keine Engländerin, oder?«
    »Nein.«
    »Dann verstehen Sie das sicher«, sagte Luis. »Auch bei Ihnen gibt es bestimmt kleine Gräber, versteckt und verborgen.« Er lachte leise.
    »Tausende«, bestätigte Judith und beobachtete, wie Gentle ins Haus zurückkehrte. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden...« Sie eilte durch den Garten, gefolgt von Luis. Klein wollte sie aufhalten, aber sie reichte ihm nur das leere Glas und trat durch die Tür.
    Gentle war in der Küche, stöberte im Kühlschrank herum, 914

    nahm die Deckel von Schüsseln und spähte hinein.
    »Soviel zu deinem Wunsch, unsichtbar zu sein«, sagte Jude.
    »Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich Kleins Einladung abgelehnt hätte?«
    »Soll das heißen: Wärst du der Party ferngeblieben, wenn ich dich darum gebeten hätte?«
    Gentle lächelte, als er etwas Schmackhaftes entdeckte.
    »Es soll heißen: Die anderen Gäste interessieren mich

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