Imagica
Und dann der Atem: Er schuf Kühle, wurde immer langsamer, bis Jude glaubte, nach jedem Ausatmen verstrich eine Ewigkeit, die sie an den Rand des Todes führte. Dann holte er wieder Luft, und sie mit ihm, fühlte dabei, wie der Sauerstoff das Leben in sie zurückbrachte. Genau darum ging es, begriff Judith: Der Körper wußte nicht, ob der nächste Atemzug der letzte sein würde, und für unbestimmte Zeit -
Sekundenbruchteile? Stunden? - schwebte er zwischen Ende und neuerlichem Anfang. Während dieser Phase, zwischen leeren und erneut gefüllten Lungen, wurden Wunder möglich; dann galt nicht das Edikt von Fleisch oder Vernunft. Sie merkte, wie Gentle den Mund öffnete, um ihre Zehen aufzunehmen, und plötzlich geschah etwas Absurdes: Ihr Fuß 920
glitt ihm in den Hals.
Er verschlingt mich, dachte sie und erinnerte sich einmal mehr an jenes Buch, das sie in Estabrooks Haus gefunden hatte. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Bilder von Liebenden, die einen Kreis bildeten und sich gegenseitig fraßen. Seltsamerweise weckte diese Vorstellung kein Unbehagen in ihr. Die andere Welt - das Reale und Wirkliche -, in der Furcht gedeihen konnte, weil es soviel zu gewinnen und zu verlieren gab, spielte hier keine Rolle. An diesem besonderen Ort existierte allein die Liebe, und sie brachte nur Gewinn, keinen Verlust.
Gentle hob ihr anderes Bein und tauchte es in die gleiche Hitze. Dann griff er nach ihren Hüften und hielt sich daran fest, als er sein Glied in sie hineinbohrte, Zentimeter um Zentimeter.
Er fühlte sich gewaltig an, und vielleicht war er gewachsen: der Mund ein großer Rachen, der Hals ein breiter Tunnel. Oder Jude gewann nun die Geschmeidigkeit von Seide, und er zog sie in sich hinein, so wie ein Zauberkünstler Blumen oder Tücher in seinen Stab. In der Dunkelheit streckte sie die Hände nach ihm aus, um das Wunder zu ertasten, doch die Finger wußten nicht, was unter ihnen vibrierte. War dies seine Haut oder ihre? Wade oder Wange? Es ließ sich nicht feststellen.
Und es bestand auch gar keine Notwendigkeit, Gewißheit zu erlangen. Nur noch ein Wunsch war in Judith lebendig: Sie sehnte sich danach, dem Beispiel der Liebenden im Buch zu folgen - und ihrerseits ihn zu verschlingen.
Sich an der Bettkante abstützend, drehte sie sich halb, wodurch das Tor zwischen ihren Beinen Gentle freigab. Noch immer verbarg die Dunkelheit Einzelheiten, aber sie erkannte nun die Umrisse seines Körpers, eine Silhouette, die sich in ihren Schatten faltete. An seiner Anatomie hatte sich nichts geändert. Er fraß sie, ja, aber dem Körper fehlte etwas Monströses. Wie ein Schlafender lag er neben ihr. Erneut streckte sie die Arme nach ihm aus und rechnete damit, daß 921
sein Leib ihr noch immer rätselhaft blieb. Doch diesmal gelang es ihr, die vom Tastsinn vermittelten Botschaften zu verstehen: hier der Oberschenkel, dort das Schienbein, die Wade, der Fuß.
Als ihre Finger über Gentles Haut strichen, schienen sie einen subtilen Wandel auszulösen, und sie glaubte zu spüren, wie der Körper weicher wurde. Der Geruch von Schweiß stimulierte ihren sexuellen Appetit, und das Prickeln in ihr verlangte nach Aktivität. Sie neigte sich Gentles Füßen entgegen, preßte die Lippen an seine Substanz. Und dann begann sie damit, ihn zu verschlingen: Ihr Begehren wurde zu einem Mund, der ihn von Kopf bis Fuß umschloß, und selbst ihr Denken umhüllte ihn.
Zacharias erschauerte, als sie ihn in sich aufnahm, und das Echo seiner Lust hallte in ihr wider. Bis zu den Hüften hatte er sie bereits gefressen, und sie entwickelte nun einen ähnlichen Appetit, der zunächst seinen Beinen galt, dann Penis und Bauch. Intensive Empfindungen gingen damit einher, und gleichzeitig gewann Judith den Eindruck von Absurdität: Ihre Körper trotzten den Gesetzen der Physik, schienen ganz neuen Regeln zu gehorchen, als sie zusammenwuchsen. War alles so einfach und doch unmöglich, abgesehen von Liebe? Ein Paradoxon, in dem sich Weisheit verbarg. Gentle verzehrte sie nun langsamer, damit sie zu ihm aufholen konnte, und gemeinsam setzten sie das gegenseitige Verschlingen fort, bis das Leibliche zur Imagination wurde, bis sie nur noch Mund an Mund existierten.
Irgend etwas in der realen Welt - eine laute Stimme auf der Straße, ein disharmonischer Saxophonklang, den der Wind vom Jazz-Club bis zur Wohnung wehte - zerrte Judith ins Universum der Plausibilität zurück, und plötzlich erkannte sie den Grund für ihre Fantasien: Sie hatte Gentle die
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